Pro & Contra

Hat der Krieg gegen die Hamas Erfolg?

PRO: »Die Infrastruktur der Terroristen wurde erheblich geschwächt«, findet Arye Sharuz Shalicar

Der Krieg Israels gegen die Hamas im Gazastreifen hat zwei Ziele. Wir wollen alle Geiseln zurück nach Hause holen – und wir wollen auf keinen Fall, dass die Mörder, Vergewaltiger und Entführer der Terrororganisation Hamas weiterhin an der Macht bleiben. Die Terroristen haben angekündigt, dass ein »neuer 7. Oktober«, also ein weiteres Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung, nur eine Frage der Zeit sein wird. Dies muss die israelische Armee auf jeden Fall verhindern.

Die Stadt Rafah im Süden des Gaza­streifens ist eine Terrorhochburg – genauso wie Dschabalia und Khan Younis. Doch in den vergangenen Monaten ist besonders Rafah zu einem Terrorzentrum geworden, weil sich Tausende Terroristen aus dem Norden und dem Zentrum des Gazastreifens dort niedergelassen haben. Außerdem konzentrierten sich dort die letzten komplett funktionierenden Bataillone der Hamas. Hinzu kommt, dass der Philadelphi-Korridor an der Grenze zu Ägypten die Lebensader der Terroristen ist – nicht der Zivilbevölkerung. Denn von den Waffen und Waren, die dort über die Grenze geschmuggelt werden, profitiert nur die Hamas. Wenn diese Lebensader durchtrennt wird, ist das ein wichtiger Beitrag zum Kampf gegen den Terror.

Die Hamas ist de facto die Regierung des Gazastreifens

Viele Menschen sprechen über die Hamas als Terrorgruppierung, verstehen aber nicht, dass sie anders als etwa der »Islamische Staat« (IS) keine Organisation ist, die sich ein Gebiet zu eigen gemacht hat, aber nicht wirklich von dort stammt oder nicht in allen Bereichen des Lebens das Sagen hätte. Nein, die Hamas wurde 2006 in Gaza gewählt und hat 2007 dort die Macht übernommen. Es sind Menschen aus Gaza, die ihr eigenes Gebiet verwalten. Die Hamas ist de facto die Regierung des Gazastreifens.

Der israelischen Armee ist es seit dem mörderischen Angriff der Terroristen am 7. Oktober 2023 mit 1200 Todesopfern gelungen, die Infrastruktur der Hamas teilweise zu zerstören und etwa 14.000 ihrer Kämpfer zu töten. Dabei geht es um terroristische Strukturen in zivilen Bereichen, in Krankenhäusern, Schulen, Moscheen, in Wohnhäusern und natürlich in Tunneln. Die Hamas ist zwar nicht komplett besiegt, aber wir haben ihre Stärke erheblich reduzieren können – weg von einer Quasi-Armee und zurück auf die Größe einer Terrororganisation in der Anfangsphase. Das ist ein nicht unbeträchtlicher Erfolg, vor allem, was die Zahl der Raketenangriffe auf den Süden Israels angeht, aber auch auf Städte im Zentrum des Landes.

»Israel muss aus einer Position der Stärke heraus handeln. Die Terroristen nutzen jede Schwäche aus.«

Arye Sharuz Shalicar


Innerhalb von nicht einmal acht Monaten kann man natürlich nicht alle Terroristen in ganz Hamastan komplett besiegen. Zur Erinnerung: Die USA und die irakische Armee haben fast ein Jahr gebraucht, um in den Jahren 2016 und 2017 nur die Stadt Mossul im Irak von 4000 Kämpfern des IS zu befreien – und dort gab es nicht einmal unterirdische Tunnel. Um die Hamas wirklich zu besiegen, bräuchten wir, wenn wir einen internationalen Vergleich zu anderen asymmetrischen Kriegen ziehen, mindestens anderthalb bis zwei Jahre.

Falls die Hamas allerdings tatsächlich bereit sein sollte, alle Geiseln, die sie in Gaza unter schrecklichen Bedingungen gefangen hält, im Gegenzug für einen Waffenstillstand freizulassen, dann würde ein Großteil der Israelis mitziehen, auch wenn die Hamas bisher zwar empfindlich geschwächt, aber nicht endgültig geschlagen ist. Doch genau das tut die Hamas nicht. Und ich bezweifle, dass das Abkommen, das jetzt von US-Präsident Joe Biden vorgeschlagen wurde, dies auch wirklich garantiert. Biden möchte natürlich einen politischen Erfolg für sich verbuchen, aber die Frage stellt sich, ob das auch in Israels Interesse ist.

Vorbereitung auf die nächste Eskalation

Und leider garantiert dieses Abkommen offenbar auch nicht, dass die Hamas Gaza nach dem Krieg nicht weiter regieren wird. Dennoch sollten wir auf den Deal eingehen, falls er die Befreiung der Geiseln garantiert, weil damit viele Wunden in Israel geheilt werden. In diesem Fall müssen wir uns leider auf die nächste Eskalation vorbereiten. Wann immer die Terroristen es wagen sollten, uns wieder massiv anzugreifen, müssen wir besser vorbereitet sein als am 7. Oktober.

Wäre die Hamas bereits im Dezember 2023 bereit gewesen, alle Geiseln freizulassen, wäre der Krieg möglicherweise beendet worden. Aber 124 Menschen sind immer noch in ihrer Gewalt. Und nicht etwa deshalb, weil Israel das so will, sondern weil die Hamas die Feuerpause gebrochen hat – nicht nur am 7. Oktober, sondern auch am 1. Dezember, als sie um 6.40 Uhr morgens erneut Raketen auf israelisches Territorium abgefeuert hat. Von den im November befreiten Geiseln haben wir erfahren, dass sie fast jeden zweiten Tag von Tunnel zu Haus, von Haus zu Haus, von Haus zu Tunnel geschleppt wurden.

Es war für Israel leider alternativlos, den Kampf fortzusetzen, also mit militärischem Druck zu versuchen, sowohl die Hamas in die Knie zu zwingen als auch die Geiseln zu befreien oder eine neue Feuerpause herbeizuführen – aus einer Position der Stärke, nicht der Schwäche heraus. Israel muss auch in Zukunft aus einer solchen Position handeln. Denn wie wir am 7. Oktober erfahren mussten, nutzen die Terroristen jede Schwäche gnadenlos aus.

Arye Sharuz Shalicar ist Publizist. Von 2009 bis 2016 war er internationaler Sprecher der israelischen Armee (IDF) und als Reservist nach dem 7. Oktober 2023 bis 1. Mai erneut Armeesprecher.

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CONTRA: »Langfristig sind militärische Operationen ohne politische Lösung sinnlos«, findet Yossi Torfstein

Das Abkommen für einen Waffenstillstand, das US-Präsident Joe Biden jetzt vorschlägt, hätte schon vor einem halben Jahr geschlossen werden müssen. Und zwar Ende November 2023, als etwa die Hälfte der israelischen Geiseln in Gaza im Gegenzug für palästinensische Häftlinge freigelassen wurde. In den ersten beiden Monaten des Krieges hat die israelische Armee der Hamas schwere Schläge beigebracht. Dass es nach dem ersten Geiseldeal zu keinem umfassenden Abkommen kam, lag an der Hamas, die die Feuerpause gebrochen hat, aber auch an Israel, das weiter kämpfen wollte. Es gab in der israelischen Regierung keinen eindeutigen Willen, die Befreiung der Geiseln als zentrales Ziel zu definieren. Das Wichtigste war die Zerstörung der Hamas und das Brechen ihrer Macht im Gazastreifen.

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hat von einem »vollständigen Sieg« über die Hamas gesprochen. Dieses Ziel ist nicht erreicht worden, auch nicht durch die Offensive in Rafah. Netanjahus Begriff ist irreführend und verfehlt. Die Hamas kann man nicht vollständig besiegen. Sie ist eine fundamentalistische religiöse Bewegung. Nach Ansicht der Hamas haben sich die Juden muslimisches Land zu Unrecht angeeignet. Hier und da hat die Hamas ihre Ideologie verwässert und 2017 ihre Charta etwas verändert. Aber das jetzt dort festgeschriebene Ziel eines palästinensischen Staates an der Seite Israels ist für die Hamas nur taktischer Natur. Ihr strategisches Ziel bleibt es, Israel zu vernichten.

Breite Bewegung auf religiöser Grundlage

Viele Palästinenser sind gläubige Muslime. Das bedeutet nicht, dass alle von ihnen die Hamas unterstützen, aber es ist eine breite Bewegung auf religiöser Grundlage. Seit 2007 regiert sie im Gazastreifen, was auch das Erziehungssystem einschließt. Obwohl die Hamas jetzt durch Israels Armee hohe Verluste erlitten hat, viele ihrer Befehlshaber getötet und zahlreiche Tunnel zerstört wurden, melden sich wieder junge Männer für den Kampf, auch weil sie dadurch Essen für sich und ihre Familien bekommen.

Längst nicht alle Kämpfer der Hamas und ihrer Eliteeinheit Nukhba wurden getötet. Wir haben Gaza-Stadt erobert, Dir el Balach, Dschabalia, Khan Younis. Jedes Mal, wenn die israelische Armee ein Gebiet verlässt, kommen die Hamas-Kämpfer zurück. Auch die Operation in Rafah ist langfristig sinnlos, sogar am Philadelphi-Korridor an der Grenze zu Ägypten, obwohl es dort durchaus einen konkreten Nutzen gibt, indem man das Tor der Hamas zur Sinai-Halbinsel inklusive Schmuggel schließt.

Dafür, dass sich der 7. Oktober nicht wiederholt, wird Israel sorgen. Wir haben unsere Lektion gelernt und werden uns nicht noch einmal überfallen und abschlachten lassen. Aber auch die Hamas hat ihre Lehren gezogen. Übrigens hatte sie die Araber mit israelischem Pass nach dem 7. Oktober 2023 aufgerufen, sich ihrem Kampf anzuschließen. Das haben die israelischen Araber nicht getan. Und auch im Westjordanland hat die Hamas Terroranschläge verübt, aber die breite Bevölkerung beteiligte sich nicht an Demonstrationen gegen Israel.

»Benjamin Netanjahu werfe ich vor, den Krieg aus persönlichen Gründen in die Länge gezogen zu haben.«

Yossi Torfstein


Solange die israelische Regierung nicht über den »Tag danach« in Gaza sprechen will, weil die Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich dort neue jüdische Siedlungen errichten und die Palästinenser zur »freiwilligen Auswanderung« bewegen wollen, gibt es für Israel kein klares Ziel. Ein israelisches Militärregime in Gaza wäre finanziell nicht zu stemmen und würde viele israelische Soldaten das Leben kosten. Was Joe Biden vorgeschlagen hat, würde bedeuten, dass die Hamas in Gaza zunächst weiter das Sagen hat.

Die vernünftigste Lösung in unserer schrecklichen Situation

So schlimm das klingt, ist es vorerst die vernünftigste Lösung in unserer schrecklichen Situation. Denn wenn die Hamas wieder herrscht, ist sie geschwächt und steht vor unglaublichen Herausforderungen. Fast alle Häuser und die Infrastruktur sind zerstört. Und in der palästinensischen Bevölkerung gibt es wachsende Kritik an der Hamas. Denn vielen Menschen – wenn auch nicht allen – ist klar, wer dieses Unglück über sie gebracht hat.

Wir müssen die Hamas weiter politisch schwächen, anstatt uns in einen endlosen Krieg verwickeln zu lassen – allerdings muss Israel natürlich militärisch reagieren, wenn die Hamas unser Land wieder mit Raketen angreift. Wie es weitergeht, hängt auch davon ab, ob die israelische Regierung bereit ist, sich mit der Palästinensischen Autonomiebehörde über eine Zweistaatenlösung zu verständigen.

Generationen von Israelis haben das Prinzip verinnerlicht, dass man Kämpfer nicht auf dem Schlachtfeld zurücklässt und Geiseln nicht aufgibt. Aber in den vergangenen Monaten war das israelische Vorgehen, was die Geiseln in Gaza betrifft, sehr unklar. Und ich werfe Netanjahu durchaus vor, den Krieg aus persönlichen Gründen in die Länge gezogen zu haben, um an der Macht zu bleiben und in die Geschichte einzugehen, als Held, welcher der Hamas einen schweren Schlag versetzt hat.

Dazu kommt die Drohung seiner rechtsextremen Koalitionspartner, die Regierung zu verlassen. Aber wir müssen die Geiseln zurückholen – alte Menschen, Frauen, Kinder und Soldaten, die unter grauenvollen Bedingungen gefangen gehalten werden. Wir müssen sie befreien. Alle. Jetzt.

Yossi Torfstein ist politischer Analyst für Nahost-Fragen. Er war Journalist bei den Zeitungen »Haaretz«,«Davar« und »Makor Rishon« sowie stellvertretender Botschafter Israels in Südafrika.

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