9. November

Hass tötet

Es sind erst 80 Jahre vergangen. Auch heute stellen sich wieder Fragen nach Menschlichkeit und Moral. Ein Leitartikel von Heiko Maas

von Heiko Maas  05.11.2018 15:47 Uhr

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannte auch die Synagoge in Bielefeld. Foto: akg-images / Hans Asemissen

Es sind erst 80 Jahre vergangen. Auch heute stellen sich wieder Fragen nach Menschlichkeit und Moral. Ein Leitartikel von Heiko Maas

von Heiko Maas  05.11.2018 15:47 Uhr

Warum kommt keine Feuerwehr?» – die Frage ging der sechsjährigen Charlotte Knobloch durch den Kopf, als sie an der Hand ihres Vaters in der Nacht des 9. November 1938 durch München lief. Synagogen brannten, jüdische Geschäfte lagen in Trümmern – in München, Berlin, Frankfurt, überall in Deutschland. Doch fast nirgendwo kam die Feuerwehr.

Gemeinsam mit Charlotte Knobloch ha­be ich dieses Jahr die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem besucht. Ihre persönliche Erinnerung an den 9. November 1938 macht bewusst, dass seither erst 80 Jahre vergangen sind. Dabei scheinen die brennenden Synagogen, der enthemmte Mob, der mordend und brandschatzend durch die Straßen zog, dem tiefsten Mittelalter oder einer noch dunkleren Vorzeit entsprungen zu sein. Doch es geschah hier, mitten in unseren Städten, vor gerade einmal 80 Jahren. In einem vermeintlich modernen, zivilisierten Land, im Land der Dichter und Denker.

SCHOCK Den Schock darüber empfand auch George Ogilvie-Forbes, der Geschäftsträger der britischen Botschaft in Berlin, als er am 16. November 1938 entsetzt und beinahe ungläubig nach London berichtete: «Modern civilisation has certainly not changed human nature.»

Dieser Satz ist nur ein Auszug aus einem von vielen Berichten ausländischer Botschaften, die das Auswärtige Amt zum Gedenken an die Novemberpogrome derzeit in einer Ausstellung zeigt. Doch aus diesem Satz spricht die ganze Erschütterung darüber, dass die Werte der Aufklärung, die vermeintliche Zivilisation und Modernität einer Kulturnation eben kein unüberwindbares Bollwerk bilden gegen dumpfe Ressentiments, gegen blinden Hass und enthemmte Gewalt. Dieser Satz wirft Fragen auf – nach den Widerstandskräften von Gesellschaften, nach Menschlichkeit und Moral. Fragen, die sich auch heute stellen.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Heute sehen wir, wie der Hitlergruß wieder auf unseren Straßen gezeigt wird. Wie junge Männer für das Tragen einer Kippa verprügelt werden. Wie «Jude» zum Schimpfwort auf unseren Schulhöfen wird. Das ist unerträglich. Das können, dürfen und werden wir nicht hinnehmen in unserem Land!

LEHRE Wenn es eine Lehre aus der Geschichte des 9. November 1938 gibt, dann ist es doch die: Hass spaltet, Hass hetzt auf, und Hass tötet. Diese Erkenntnis hat sich erst vor wenigen Tagen auf grausame Weise bewahrheitet, in Pittsburgh, wo elf unschuldige Menschen Opfer blanken Hasses auf Juden wurden. Deshalb muss uns jede rote Linie, die überschritten wird, zum Handeln zwingen.

Als im November 1938 die Synagogen brannten, war es bereits zu spät. Der Widerstand der Anständigen war, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ausgeblieben. Gerade einmal fünf Jahre – von 1933 bis 1938 – hatten gereicht, um Moral und Menschlichkeit zu untergraben. Der Weg war bereitet für das größte Menschheitsverbrechen der Geschichte, den millionenfachen Mord an jüdischen Frauen, Männern und Kindern.

Gerade einmal fünf Jahre – von 1933 bis 1938 – hatten gereicht, um Moral und Menschlichkeit zu untergraben.

Dass Deutschland heute, nur 80 Jahre später, für viele Jüdinnen und Juden wieder Heimat geworden ist, ist für uns Deutsche vor dem Hintergrund dieser Geschichte ein unverdientes Geschenk. Wir verdanken es Menschen wie den drei orthodoxen Rabbinern, bei deren Ordinationsfeier in der Beth-Zion-Synagoge in Berlin ich vor wenigen Wochen zu Gast sein durfte.

VERTRAUEN Es war die erste Ordination orthodoxer Rabbiner in Berlin seit der Schoa. Diese drei Menschen und ihre Gemeinden haben durch die Rückkehr in unser, in ihr Land großes Vertrauen in unseren Rechtsstaat, in unsere Demokratie und in die Offenheit unserer Gesellschaft zum Ausdruck gebracht. Dieses Vertrauen gilt es gegen alle Anfeindungen zu verteidigen. Denn Deutscher zu sein, schließt für immer die Verantwortung ein, jüdisches Leben zu schützen.

Wir dürfen antisemitischen und rassistischen Ressentiments keinen Fuß breit Platz lassen. Erst sind es Worte, dann folgen die Taten. Der «Firnis der Zivilisation» ist eben auch heute noch dünn, wie der Schweizer Soziologe Kurt Imhof bereits vor einigen Jahren angemerkt hat. Unsere Modernität, die schier unendliche Menge verfügbaren Wissens in einer digitalisierten Welt – sie sind keine Versicherung gegen Intoleranz, Rassismus und Antisemitismus.

Doch wir haben die Wahl. Die Brutalität und der Hass, über die der britische Gesandte 1938 beim Anblick der Pogrome so erschrak, sie sind nur eine Seite der menschlichen Natur. Populisten und Natio­nalisten nutzen sie aus. Sie spielen mit der Angst. Sie schüren Ressentiments und Vorurteile.

Machen wir klar, dass wir auf der anderen Seite stehen. Auf der Seite von Toleranz, Respekt und Mitgefühl. Als Politiker, als Demokraten, aber vor allem: als Menschen.

Der Autor ist Bundesminister des Auswärtigen.

Debatte

Darf man Israel kritisieren?

Eine Klarstellung von Rafael Seligmann

von Rafael Seligmann  21.11.2024

Medienberichte

Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck im Alter von 96 Jahren gestorben

In der rechtsextremen Szene wird sie bewundert

 21.11.2024

Washington D.C.

US-Senat gegen Blockade einiger Waffenlieferungen an Israel

Eine Gruppe von Demokraten scheitert mit ihrem Vorstoß

 21.11.2024

Fachtagung

»Kulturelle Intifada«

Seit dem 7. Oktober ist es für jüdische Künstler sehr schwierig geworden. Damit beschäftigte sich jetzt eine Tagung

von Leticia Witte  20.11.2024

Russlands Krieg in der Ukraine

1000 Tage Krieg

Die Ukraine hat gerade ein bitteres Jubiläum begangen - 1000 Tage Krieg. Wie leben die Menschen dort, begleitet von so viel Tod und Zerstörung? Streiflichter von einem einzelnen Tag geben einen kleinen Einblick

von Illia Novikov  20.11.2024

Berlin

Prozess gegen Teilnehmer israelfeindlicher Uni-Besetzung eingestellt

Die Aktion an der Humboldt Universität bleibt auch wegen der dort verbreiteten Pro-Terror-Propaganda in Erinnerung

 20.11.2024

Meinung

Jung, jüdisch, widerständig

Seit dem 7. Oktober 2023 müssen sich junge Jüdinnen und Juden gegen eine Welle des Antisemitismus verteidigen

von Joshua Schultheis  20.11.2024

USA

Trump nominiert Juden für das Handelsministerium

Howard Lutnick ist Chef des New Yorker Finanzunternehmens Cantor Fitzgerald

von Andrej Sokolow  20.11.2024

Wien

IAEA: Iran will Uran-Produktion beschränken

Dabei hat das Mullah-Regime seinen Uran-Vorrat zuvor massiv aufgestockt

 20.11.2024