An Wände geschmierte Hakenkreuze, Kippaträger, die in manchem Großstadtbezirk beleidigt werden und Anschläge auf Synagogen – das ist Alltag in Deutschland. Und die Statistik sagt: Jeden Tag werden hier vier bis fünf antisemitische Straftaten verübt.
dunkelziffer Aber was genau wird registriert? »Störung der Totenruhe« ist der juristische Terminus für die Schändung von Friedhöfen. Was das ist, weiß man: umgestürzte Grabsteine, Schmierereien, auch Gegröhle gehört dazu. Schon 1947, zwei Jahre nach Ende der Schoa, wies die Statistik aus, dass in Ost- und Westdeutschland wöchentlich ein jüdischer Friedhof geschändet wurde. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Im Durchschnitt gab es zwischen 2000 und 2009 in Deutschland 50,9 derartige Vorfälle pro Jahr. Ein konstant hohes Niveau, ohne dass eine Tendenz nach oben oder unten zu erkennen ist.
Das gilt nicht nur für Friedhofsschändungen, es trifft auf alle antisemitischen Straftaten zu: 2001 wurden insgesamt 1.691 Delikte gezählt, im Jahr 2009 war es ein Übergriff weniger: 1.690. Judenhass ist Alltag, der Skandal normal. Und immer gibt es eine sehr hohe Dunkelziffer. Denn nicht jedes Graffito wird zur Anzeige gebracht, selten wird über die Friedhofsmauer geworfener Unrat gemeldet. Nicht in jedem Besäufnis, das zwischen jüdischen Grabsteinen stattfindet, ist die örtliche Polizei bereit, eine antisemitische Straftat zu erkennen. Sollte eine Schändung »in natürlicher Handlungseinheit mit einem schwerer bestraften Delikt wie zum Beispiel Raub« erfolgt sein, taucht sie auch nicht in der Statistik auf, wie die Bundesregierung der Linke-Abgeordneten Petra Pau im vergangenen Jahr auf ihre Große Anfrage mitteilte.
Presse An halbwegs seriöse Daten über antisemitische Übergriffe zu gelangen, ist nicht leicht. Eines der am häufigsten angewandten Mittel ist die Presseauswertung. So listet die Berliner Amadeu-Antonio-Stiftung auf ihrer Website einzelne Fälle auf. Auch die linken Zeitschriften Konkret und Jungle World sowie die Website »blick nach rechts« veröffentlichen regelmäßig eigene Recherchen. Dabei sind überregionale Medien auf die Zuarbeit von Lokalzeitungen angewiesen. Diese aber müssen über solche Vorfälle erst einmal berichten.
Die Zahlen der Behörden unterscheiden sich von denen gesellschaftlicher Gruppen, etwa von Opferverbänden, mitunter deutlich. »Für die polizeiliche Erfassung«, heißt es im Bundesinnenministerium (BMI), sei die »konkrete Tatmotivation« entscheidend. Zählen die einen beispielsweise jede Straftat eines Nazis als rechtsextremes Delikt, sagen die Behörden, dass »kriminell auffällige Personen aus dem rechtsextremen Milieu oftmals auch eine stattliche allgemeinkriminelle Karriere aufweisen«. Schon hat das BMI die Hälfte weniger an Delikten in der Kategorie »Politisch Motivierte Kriminalität« (PMK).
Seit 2001 gibt es beim BMI ein »neues Definitionssystem«. Nun steht die »tatauslösende politische Motivation« im Mittelpunkt. Früher wurde beispielsweise eine Beleidigung wie »Du Scheißjude« nicht als antisemitisch gewertet, wenn der Geschmähte gar kein Jude war; mittlerweile zählt die Absicht des Täters.
Nach BMI-Zählung wurden nur 114 der 350 Delikte des Jahres 2009, die etwas mit dem Nahostkonflikt zu tun haben, in der Kategorie »PMK rechts« abgelegt. 21 Fälle wurden von Linken begangen, und unter »PMK Ausländer«, was zu einem großen Teil Islamisten betrifft, wurden 145 Straftaten registriert: Damit ist erstmals der Anteil der »PMK Ausländer« bei dieser Art Straftaten größer als bei der »PMK rechts«.
Migrationshintergrund Aber Ausländer sind nicht unbedingt Ausländer. Hier werden etwa auch die Delikte der »Sauerland-Gruppe« geführt. Dabei besteht diese aus drei deutschen und einem türkischen Staatsbürger. Zwei von ihnen sind in Deutschland geboren, zum Islam konvertiert und gänzlich ohne Migrationshintergrund. Wie die Begründung des BMI hier greift, wonach »die durch eine nichtdeutsche Herkunft geprägte Einstellung des Täters für die Tatbegehung ausschlaggebend« sein soll, bleibt unklar.
Immer noch unterscheiden die Behörden zwischen antiisraelischen und antisemitischen Delikten. Nur manchmal wird doppelt gezählt. Ein Beispiel: »Ein Täter beschädigt ein israelisches Konsulat, indem er an die Hauswand sprüht ›Israelis raus aus Palästina‹ und schreibt dabei alle S-Buchstaben als Runen.« Fehlen diese, mangelt es nach Behördeneinschätzung auch an Antisemitismus. Nur 45 Prozent der antiisraelischen Delikte werden auch als judenfeindlich gewertet.
Soziologen gehen davon aus, dass zwischen 20 und 30 Prozent der Bevölkerung in Deutschland antisemitische Einstellungen haben. Ähnlich verhält es sich mit den Straftaten: Es gibt einen stabilen Sockel. Ein Grund zur Entwarnung ist das nicht.