Hartz IV

Handlungsbedarf

Mehr als fünf Millionen Menschen in Deutschland beziehen Leistungen der Grundsicherung. Foto: ullstein bild - McPHOTO

Jens Spahn (CDU) wurde schwer gescholten für seine Aussage, man könne mit der Grundsicherung »ganz gut leben«. Andrea Nahles (SPD) verkündete nach der letzten Wahlniederlage, die SPD wolle »Hartz IV überwinden« – um kurze Zeit später beim Deutschen Arbeitgebertag zu betonen, dass es ihrer Partei keinesfalls um ein sozialpolitisches Zurück in die 90er-Jahre gehe: Wer die Grundsicherung in Anspruch nehme, von dem dürfe man erwarten, dass er sich anstrengt, seine Bedürftigkeit auch zu überwinden. Und wer Regeln gezielt missachte, müsse mit Leistungssperren rechnen. Katrin Göring-Eckardt (Grüne) beurteilte das von ihrer Partei ehemals mitbeschlossene System vor Kurzem kritisch, da die soziale Ungleichheit steige.

Das von vielen Menschen als ungerecht empfundene soziale Sicherungssystem ist wieder Thema in der politischen Landschaft. Die Bundesregierung wäre daher gut beraten, sich dieser Frage der sozialen Sicherungssysteme anzunehmen. Noch läuft die Konjunktur auf Hochtouren, die Steuereinnahmen sprudeln, und in vielen Branchen besteht ein Mangel an Arbeitskräften. Doch kein Boom ist dauerhaft, die nächste Abschwächung der Konjunktur nur eine Frage der Zeit.

zündstoff Welcher Zündstoff den Zusammenhalt einer Gesellschaft sprengen kann, wenn breite Bevölkerungsschichten nicht nur von der Angst vor sozialem Abstieg gepackt werden, sondern diesen ganz real am eigenen Leib erfahren müssen, lässt sich beim Blick auf die Proteste der Bewegung der »gilets jaunes« im Nachbarland Frankreich erahnen. In Deutschland sehen wir ein Anwachsen des Rechtspopulismus vor allem bei Menschen, die ihre soziale und finanzielle Existenz bedroht sehen, und in Regionen, in denen die Bevölkerung den Glauben an den Staat als ein für Gerechtigkeit, Ausgleich und soziale Sicherung sorgendes Gemeinwesen verloren haben.

Nicht zuletzt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung aus dem Jahr 2018 belegt deutlich den Zusammenhang zwischen Existenzängsten der bürgerlichen Mitte und dem Anstieg der Zustimmung zu rechtspopulistischen Thesen.

Die Angst vor dem Abstieg projiziert sich auf vermeintlich Verantwortliche, auf »die Politiker«, »die Flüchtlinge« und immer stärker auch auf »die Juden«. Wer den Zusammenhalt der Gesellschaft erhalten und ein Abdriften in einen von Partikular­interessen geprägten Populismus verhindern möchte, kommt an einer Reform des Sozialsystems nicht vorbei.

Der Slogan vom Fördern und Fordern ist kein Allheilmittel.

Der Slogan vom Fördern und Fordern ist kein Allheilmittel, Erwerbslosigkeit ist nicht zwangsläufig auf individuelles Versagen oder eine Verweigerungshaltung zurückzuführen. Auch der Staat steht in der Verantwortung, gleichwertige Lebensbedingungen sowie Chancengleichheit zu schaffen und zu sichern.

grundsicherung Bei der Gestaltung einer sozialverträglichen Grundsicherung sind realistische Bedarfshöhen und konsensuale Grenzen von Armut zu definieren, die ein Leben in Würde ermöglichen und frei von überzogenen Sanktionen bleiben müssen.

Gegenseitige Ansprüche von Leistungsempfängern und Solidargemeinschaft müssen transparent, nachvollziehbar und verständlich sein. Höhe und Dauer von Transferleistungen sollten die Erwerbsbiografie der Leistungsbezieher und die konjunkturelle Lage berücksichtigen. So könnte beispielsweise die Bezugsdauer in Zeiten einer Rezession oder eines regionalen Strukturwandels verlängert werden.

Mehr als fünf Millionen Menschen in Deutschland beziehen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Aber nur rund 20 Prozent der Bezieher sind tatsächlich ohne Erwerbseinkommen. Die überwiegende Mehrheit erhält die Leistungen, weil ihr Erwerbseinkommen unter dem Existenzminimum liegt.

langzeitarbeitslose Ein weiterer Baustein der Reform müsste demnach den Arbeitsmarkt betreffen. Neben flexibleren Zuverdienstmöglichkeiten ist eine Anhebung und Ausweitung des Mindestlohns auf ein existenzsicherndes und Altersarmut vermeidendes Niveau notwendig. Die Aufstockung von Erwerbseinkommen durch Sozialleistungen sollte Ausnahme und nicht Regel sein.

Hauptursache für Langzeiterwerbslosigkeit sind mangelnde oder nicht nachgefragte berufliche Qualifizierungen. In Deutschland liegt der Durchschnittswert derer, die mehr als ein Jahr arbeitslos sind, um neun Prozent über dem Durchschnittswert der OECD – ein deutliches Zeichen dafür, dass Handlungsbedarf besteht.

Das in diesem Jahr gestartete Maßnahmenpaket der »sozialen Teilhabe«, das Langzeitarbeitslosen über einen längeren Zeitraum die Möglichkeit bietet, eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufzunehmen, hat zwar deutliches Optimierungspotenzial, ist aber ein Schritt in die richtige Richtung, von dem auch viele jüdische Zuwanderer der ersten Generation und deren Gemeinden als Arbeitgeber und Betreuer profitieren können.

Die Chancen für eine umfassende Reform stehen derzeit schlecht. Die Regierungskoalition hat hierzu keine gemeinsamen Ziele vereinbart. Vielleicht bringen die anstehenden Wahlen zum Europaparlament und zu den Landesparlamenten im Osten eine neue Dynamik in die Diskussion.

Der Autor ist Leiter des Berliner Büros der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST).

Meinung

Ein Bumerang für Karim Khan

Die Frage der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshof für Israel muss erneut geprüft werden. Schon jetzt ist klar: Der Ruf des Gerichts und seines Chefanklägers wird leiden

von Wolf J. Reuter  25.04.2025

Meinung

Die UN, der Holocaust und die Palästinenser

Bei den Vereinten Nationen wird die Erinnerung an den Holocaust mit der »Palästina-Frage« verbunden. Das ist obszön, findet unser Autor

von Jacques Abramowicz  25.04.2025

80 Jahre nach Kriegsende

»Manche Schüler sind kaum noch für uns erreichbar«

Zeitzeugen sterben, der Antisemitismus nimmt zu: Der Geschichtsunterricht steht vor einer Zerreißprobe. Der Vorsitzende des Verbands der Geschichtslehrerinnen und -lehrer erklärt, warum Aufgeben jedoch keine Option ist

von Hannah Schmitz  25.04.2025

Washington D.C.

Trump beschimpft Harvard als »antisemitische, linksextreme Institution«

Der US-Präsident geht vehement gegen Universitäten vor, die er als linksliberal und woke betrachtet. Harvard kritisiert er dabei besonders heftig

 25.04.2025

Berlin/Jerusalem

Herzog kommt in die Bundesrepublik, Steinmeier besucht Israel

Der Doppelbesuch markiert das 60-jährige Jubiläum der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern

 25.04.2025

«Nie wieder»

Dachauer Gedenkstättenleiterin warnt vor ritualisierten Formeln

Die KZ-Gedenkstätte Dachau erinnert am 4. Mai mit einer großen Feier mit 1.800 Gästen an die Befreiung des ältesten Konzentrationslagers durch amerikanische Truppen am 29. April 1945

von Susanne Schröder  25.04.2025

Geschichte

Bundesarchiv-Chef warnt vor dem Zerfall historischer Akten

Hollmann forderte die künftige Bundesregierung auf, einen Erweiterungsbau zu finanzieren

 25.04.2025

Israel

Regierung kondoliert nach Tod des Papstes nun doch

Jerusalem löschte Berichten zufolge eine Beileidsbekundung nach dem Tod des Papstes. Nun gibt es eine neue

 25.04.2025

Berlin/Grünheide

Senatorin verteidigt ihre »Nazi«-Äußerung zu Tesla

Berlins Arbeitssenatorin spricht im Zusammenhang mit der Marke von »Nazi-Autos«. Daraufhin gibt es deutliche Kritik. Die SPD-Politikerin reagiert

 25.04.2025