Herr Conrad, wie bewerten Sie das jetzt getroffene Abkommen zur Freilassung von Hamas-Geiseln?
Der Deal ist ein erster Schritt, eine Teillösung der Geiselfrage. Und er wird zumindest eine kurzzeitige Linderung der humanitären Not in Gaza bringen. Sollte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) tatsächlich Zugang zu den von der Hamas weiter festgehaltenen Geiseln erhalten, könnte das die Situation dieser Menschen und ihrer Familien etwas stabilisieren. Insbesondere dann, wenn es sich um wiederkehrende Besuchsoptionen handelt. Militärisch gesehen erscheint mir die vereinbarte Feuerpause vertretbar. Nicht umsonst haben sich in Israel offenbar auch die Armeeführung und auch die Nachrichtendienste für den Deal ausgesprochen.
Wer hat sich Ihrer Meinung eher durchgesetzt, Israel oder die Hamas?
Verglichen mit früheren Fällen ist dieser Deal nicht grob ungleichgewichtig. Der Schlüssel, also drei palästinensische Sicherheitshäftlinge gegen eine Geisel in der Gewalt der Hamas auszutauschen, dürfte für Israel hinnehmbar sein. Er könnte im Übrigen auch eine Indizwirkung für weitere Austauschoperationen entfalten, obwohl man aktuell noch nicht sagen kann, dass darüber schon ein Konsens bestünde. Die Implikationen der Umsetzung des Abkommens sind noch nicht absehbar. Hier bestehen nach wie vor gegenläufige Interessen: Die Hamas will wohl, auch mit Blick auf weitere Teilabkommen, eine möglichst lange Feuerpause herausholen, um militärisch und politisch wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen. Die israelische Interessenlage, nämlich eine völlige Zerschlagung der Hamas, steht dem entgegen. Der Prozess bleibt eigendynamisch, komplex und ist kaum zuverlässig vorhersehbar.
Was ist das »Endgame« beider Seiten in der Geiselfrage? Und was muss passieren, damit auch die übrigen Entführten bald freikommen?
Entscheidend wird sein, in welchem militärischen und politischen Zustand beide Seiten die abschließende Phase der Verhandlungen erreichen. Sollte die Hamas sich durch weitere Teilabkommen, auch mit regionaler und internationaler Unterstützung, als politischer Akteur behaupten können, wird Israels Regierung sich mit erheblichen Forderungen konfrontiert sehen. Die Rückkehr zu militärischem Druck wird umso schwerer werden, je länger die Sequenz von Teil-Deals und Feuerpausen andauert. Und die Hamas wird versuchen, die Zeit für sich arbeiten zu lassen.
Wenn Israel die Wahl hat zwischen dem Stopp seiner Militäroperation in Gaza einerseits und der Ausschaltung der Hamas andererseits, mit entsprechendem Risiko für das Leben der Geiseln, welche Option wird es wählen?
Das weiß Israel wohl selbst noch nicht. Diese Abwägung zwischen zwei so gegensätzlichen Zielen wird aller Voraussicht nach situationsbezogen erfolgen.
Wer sind die entscheidenden externen Akteure bei den Geiselverhandlungen?
In erster Linie Katar und Ägypten. Katar als Vermittler und Ägypten zumindest als »Facilitator« für die Kontakte ins Kriegsgebiet. Die USA als strategischer Partner sowohl Israels und auch Katars sind offenbar ebenfalls entscheidend für die Willensbildung. Europa mag flankierend gewirkt haben.
Dem Roten Kreuz wurde vorgeworfen, nicht genug zu tun, um die Geiseln aufsuchen zu können. Wie bewerten Sie das?
Vorwürfe an die Adresse des IKRK zählen zum Standardrepertoire politisch opportuner Aussagen, gerade in Phasen eigener Schwäche. Wir sollten aber zur Kenntnis nehmen, dass das IKRK nur dann handeln kann, wenn bei beiden Konfliktparteien der Wille dazu vorhanden ist. Die Hamas hat sich auch früher schon intransigent gegenüber entsprechenden Forderungen gezeigt. Umso bemerkenswerter erscheint mir der sich jetzt andeutende Sinneswandel. Der dürfte letztlich der schwierigen eigenen Lage der Hamas geschuldet sein.
Mit dem ehemaligen Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes und Vermittler bei früheren Geiselverhandlungen mit der Hamas sprach Michael Thaidigsmann.