Weniger als einen Monat vor dem blutigen Überfall auf Israel bereiteten sich Terroristen der Hamas ganz offen genau darauf vor. In einem etwa zweiminütigen Propaganda-Video, das am 12. September im Internet veröffentlicht wurde, ist zu sehen, wie mit Sprengstoff ein Nachbau der Grenzmauer zerstört wird, bewaffnete Männer auf Pick-ups hindurchfahren, dann in einer ebenfalls nachgebauten israelischen Siedlung von Haus zu Haus vordringen und dabei auf Zielscheiben in Menschenform schießen.
Im Rahmen der Übung mit scharfer Munition widmen sich einige Islamisten in voller Kampfmontur auch besonderen Aufgaben wie der Zerstörung von Nachbildungen der israelischen Wachtürme und einer Funkantenne – so wie dann auch bei dem echten Angriff am vergangenen Samstag, bei dem mehr als 1300 Menschen in Israel ermordet wurden. Die israelischen Sicherheitskräfte dürften von den Übungen gewusst haben. Trotzdem wurden sie ganz offensichtlich vom Einsatz der Hamas überrascht.
»Es gab eindeutig Warnungen und Hinweise, die hätten beachtet werden müssen«, sagt Bradley Bowman vom US-Institut Foundation for Defense of Democracies. »Oder vielleicht wurden sie beachtet, aber dies führte nicht zu den erforderlichen Vorbereitungen, die hätten getroffen werden müssen, um diese schrecklichen terroristischen Taten zu verhindern.«
Die Nachrichtenagentur AP hat Dutzende Videos ausgewertet, die im Laufe des zurückliegenden Jahres von der Hamas vor allem über die Social-Media-Plattform Telegram veröffentlicht wurden. Durch Abgleich mit Satelliten-Bildern konnte der Standort der nachgebauten israelischen Siedlung lokalisiert werden: Das »Trainingsgelände« befindet sich im Süden des Gazastreifens, außerhalb des Küstenortes Al-Mawasi. Am Zugangstor steht auf einem Schild »Horesch Jaron« – der Name einer umstrittenen israelischen Siedlung im Westjordanland.
Laut Bowman gibt es Anzeichen dafür, dass die Hamas Israel glauben lassen wollte, dass sie sich auf Angriffe im Westjordanland und nicht im Bereich des Gazastreifens vorbereite. Die in dem Video vom 12. September demonstrierte Übung wurde erstmals im Dezember 2020 und seitdem jährlich abgehalten. Bemerkenswert ist, dass sie diesmal um vier Monate vorgezogen wurde und am Jahrestag des israelischen Abzugs aus dem Gazastreifen 2005 stattfand.
Michael Milschtein, ein israelischer Oberst im Ruhestand, der beim militärischen Geheimdienst für die Überwachung der Palästinensergebiete zuständig war, räumt ein, dass auch er vom Ausmaß des Angriffs am Samstag überrumpelt worden sei, obwohl er die Hamas-Videos gekannt habe.
»Wir wussten von den Drohnen, wir wussten von den Sprengfallen, wir wussten von Cyber-Attacken und den Marine-Einheiten«, sagt er. »Die Überraschung war die Koordination zwischen all diesen Systemen.«
Die Fehleinschätzung der israelischen Sicherheitskräfte dürfte auch mit Entscheidungen vor mehr als zehn Jahren zu tun haben. Angesichts wiederkehrender Angriffe aus dem Gazastreifen setzte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu damals ganz auf den Bau von Befestigungsanlagen entlang der Grenze.
Mit finanzieller Unterstützung der USA wurde bis 2021 ein hochmoderner Schutzwall errichtet – sechs Meter hoch und unter anderem mit Kameras, die auch im Dunkeln sehen können sowie seismischen Sensoren, die Tunnelarbeiten in bis zu 60 Meter Tiefe erkennen. Die Wachtürme wurden mit fernsteuerbaren Maschinengewehren ausgestattet.
Am Samstag vergangener Woche brauchte die Hamas trotz allem nur wenige Minuten, um die Befestigungsanlagen zu überwinden. Und es gelang ihr mit relativ einfachen Mitteln. Sie sprengte Löcher in die physische Barriere und erweiterte diese dann mit Bulldozern, so dass Pick-ups und Motorräder durchfahren konnten. Kameras und sonstige Kommunikationsausrüstung wurden mithilfe von kleinen Drohnen zerstört. Scharfschützen schalteten die Maschinengewehre auf den Türmen aus, indem sie auf deren Munitionskisten zielten und sie zur Explosion brachten.
Terroristen mit Sturmgewehren flogen auch mit Gleitschirmen über die Grenze hinweg. Als die Mauer einmal durchbrochen war, konnten Hunderte Anhänger der Hamas auch auf dem Boden auf israelisches Gebiet gelangen.
In einem Video ist zu sehen, wie ein einzelner israelischer Panzer zum Ort des Angriffs rollt, aber schnell in Flammen aufgeht. Da die Hamas Funktürme und Radaranlagen zerstört hatte, dürften die Möglichkeiten der israelischen Kommandeure, das Ausmaß des Angriffs zu erkennen, zunächst beeinträchtigt gewesen sein.
Bei aller Hightech-Ausrüstung sei die Grenzanlage am Ende eben doch nur eine physische Barriere gewesen, sagt Victor Tricaud von der in London ansässigen Beratungsfirma Control Risks. Und mit Sprengstoff und Bulldozern könne eine solche Barriere irgendwann überwunden werden. Aber »bemerkenswert war die Fähigkeit der Hamas, alle Vorbereitungen geheim zu halten«.
Die Hamas-Truppen griffen auch einen Militärstützpunkt nahe der Siedlung Zikim an. Nach intensiven Gefechten mit israelischen Soldaten konnten sie diesen aber überwinden und verteilten sich dann auf israelischem Gelände, verübten Massaker in Wohngebieten und auf einem Musik-Festival. Bei den Leichen getöteter Hamas-Kämpfer wurden später zum Teil detaillierte Karten mit geplanten Angriffsrouten gefunden. Insgesamt wurden laut Angaben der israelischen Behörden von Mittwoch etwa 1500 Hamas-Angreifer getötet.
Der in Beirut lebende Hamas-Funktionär Ali Barakeh räumt ein, dass seine Organisation im Laufe der Jahre finanzielle und auch militärische Hilfe von Verbündeten wie dem Iran und der Hisbollah im Libanon erhalten habe. Er beteuert aber, dass der Angriff am Samstag von der Hamas geplant worden sei und nur wenige Kommandeure vorab den genauen Zeitpunkt gekannt hätten. Einige Terroristen, die an dem Angriff teilgenommen hätten, seien zunächst davon ausgegangen, dass es sich lediglich um eine weitere Übung handle.
Eines Tages wird sich Premier Netanjahu wohl der Frage stellen müssen, warum er sich so sehr auf den aufwendigen und teuren Bau der Grenzbefestigung verlassen hatte. Bislang halten sich kritische Stimmen aber zurück.
Die Streitkräfte seien der Öffentlichkeit eine Erklärung schuldig, betonte der israelische Militärsprecher Daniel Hagari. Aber im Moment sei nicht die Zeit dafür. »Erst kämpfen wir, dann ermitteln wir«, sagte er.