Als Max Schwab an Erew Jom Kippur die Tür zum jüdischen Friedhof in der Hallenser Humboldtstraße aufschloss, um vor dem Gottesdienst das Grab seiner Familie zu besuchen, wunderte er sich. »Ich sah keine Polizei – wo doch Jom Kippur war.«
Der 87-jährige Max Schwab ist das älteste Mitglied der Jüdischen Gemeinde Halle. Der lange Gottesdienst an jenem Dienstagabend strengte ihn an – so sehr, dass er am Mittwochmorgen noch erschöpft war und nicht erneut zur Synagoge ging. »Ich bin froh, dass ich zu Hause blieb«, sagt er.
Jene, die nicht zu Hause blieben, sondern zum Gebet in die Synagoge gingen, erlebten furchtbare Stunden. In dem kleinen Vorraum neben der Synagogentür beobachteten die Beter auf dem Bildschirm der Überwachungskamera, wie ein Mann versuchte, mit Waffengewalt in die Synagoge einzudringen, was aber misslang. Doch dann sahen sie mit Entsetzen, wie er direkt vor der Tür eine Frau erschoss.
In der Synagoge habe keine Panik geherrscht, aber Anspannung. »Wir haben gesungen, wir haben gebetet«, sagt eine Gottesdienstbesucherin. Sie seien dankbar gewesen, dass sie noch lebten.
OPFER Zwei Menschen jedoch überlebten den Anschlag nicht. Jene Frau vor der Synagoge sowie ein Mann in einem Dönerimbiss in der Ludwig-Wucherer-Straße, nur wenige Hundert Meter von der Synagoge entfernt.
Am frühen Nachmittag des Jom Kippur wird der Tatverdächtige festgenommen: ein 27-jähriger deutscher Staatsangehöriger. Schnell legt sich Bundesinnenminister Horst Seehofer fest: Es ist von einem antisemitischen Motiv und einem rechtsextremistischen Hintergrund auszugehen. Einen Tag nach der Tat erlässt der Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof Haftbefehl gegen den mutmaßlichen Attentäter. Generalbundesanwalt Peter Frank spricht von Terror.
»Jeder sieht mir an, dass ich nicht deutsch bin. Da fühlt man sich in Deutschland unsicher«, sagt ein Gemeindemitglied aus Halle.
Nach dem Synagogenanschlag von Halle werden verstärkt Forderungen nach einem besseren Schutz jüdischer Einrichtungen und einer konsequenteren Bekämpfung von Antisemitismus erhoben.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagt bei seinem Besuch am Tatort, »einen solchen feigen Anschlag zu verurteilen, das reicht nicht«. Es müsse klar sein, »dass der Staat Verantwortung übernimmt für jüdisches Leben, für die Sicherheit jüdischen Lebens in Deutschland«.
Und Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) erklärt: »Es gehört zu unserer Staatsräson, dass Juden in Deutschland sicher leben können.« Zuvor hatte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, den Behörden in Sachsen-Anhalt Versäumnisse vorgeworfen und einen besseren Schutz jüdischer Einrichtungen gefordert. »Offensichtlich hat man die Situation im Vorfeld verkannt.« Bei den meisten Synagogen sei es üblich, dass zu Gottesdienstzeiten ein Polizeiposten an dem Gotteshaus steht. In Sachsen-Anhalt sei das offensichtlich nicht die Regel. In mehreren Bundesländern wird seitdem der Schutz von Synagogen verstärkt.
POLIZEIAUSBILDUNG Ein junger Mann aus der Hallenser jüdischen Gemeinde möchte nicht, dass sein Name in der Zeitung steht. Er ist in der Ausbildung zum Polizeimeister. »Wir machen unsere Arbeit sehr gut«, sagt er, »wir geben unser Bestes, um unsere Schutzobjekte zu bewachen.« Doch viele fragen sich: War die Synagoge von Halle möglicherweise gar kein Schutzobjekt? »Ich musste immerzu daran denken, was passiert wäre, wenn der Attentäter tatsächlich in die Synagoge eingedrungen wäre«, sagt der junge Polizist, der nach dem Anschlag eine schlaflose Nacht hatte.
13 Jahre ist es her, da feierte er in der Synagoge an der Humboldtstraße seine Barmizwa. Als am Jom Kippur der Anschlag passierte, war er nicht dort zum Beten, aber er hatte frei. »Mein Vater – er ist Muslim – war so froh, dass ich keinen Dienst hatte!«
Das Ziel, das der mutmaßliche Attentäter im Visier hatte, vereint der junge Polizist in einer Person: Durch seine jüdische Mutter ist er Mitglied der jüdischen Gemeinde, durch seinen Vater fühlt er sich den Muslimen verbunden – und jahrelang jobbte er in einem Dönerladen. »Ich empfinde mich nicht direkt als Zielscheibe«, sagt er, »aber jeder sieht mir an, dass ich nicht deutsch bin – da fühlt man sich in Deutschland unsicher.«
HUBSCHRAUBER Am Tag nach Jom Kippur strahlt die Sonne über Halle, ein Hubschrauber kreist über der Synagoge. An der Holztür, die der Angreifer vergeblich versucht hatte, aufzuschießen, legt Bundespräsident Steinmeier Blumen nieder. Gemeinsam mit dem Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, und Landesinnenminister Holger Stahlknecht (beide CDU), Zentralratspräsident Schuster und dem israelischen Botschafter Jeremy Issacharoff besucht der erste Mann im Staat die Gemeinde. Im Kidduschraum setzen sie sich mit dem Gemeindevorsitzenden Max Privorozki, Rabbiner Elischa Portnoy und einigen Gemeindemitgliedern zum Gespräch zusammen. Journalisten sind ausdrücklich unerwünscht, sie müssen vor der Tür bleiben. Nach dem Gespräch wird Steinmeier sagen: »Die Geschichte mahnt uns, die Gegenwart fordert uns.«
Der Gemeindeälteste Max
Schwab fühlt sich an die
Pogromnacht 1938 erinnert.
Gemeinsam mit Zentralratspräsident Schuster und dem israelischen Botschafter besucht Steinmeier danach den Dönerimbiss in der Ludwig-Wucherer-Straße. Sie legen Blumen nieder und gedenken des am Vortag dort ermordeten 20-Jährigen. Steinmeier sagt, die gesamte Gesellschaft müsse Haltung zeigen. Wer jetzt noch einen Funken Verständnis für Rechtsextremismus und Rassenhass zeige, wer Hass schüre, wer politisch motivierte Gewalt gegen Andersdenkende und Andersgläubige rechtfertige, der mache sich mitschuldig.
BUNDESKANZLERIN Bereits am Abend der Tat hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) an einer Solidaritätsveranstaltung an der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin teilgenommen. Auch einen Tag später stand sie noch unter dem Eindruck der Ereignisse von Halle. Auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall in Nürnberg sagte sie: »Hass, Rassismus und Antisemitismus dürfen keinen Platz in unserem Land haben.« Es brauche neben der »Konsequenz des Rechtsstaates« vielfältiges zivilgesellschaftliches Engagement. »Wir sind froh über jede Synagoge, über jede jüdische Gemeinde und über jüdisches Leben in unserem Land.«
Doch nicht alle Bundespolitiker fanden die passenden Worte. Manche nannten den Anschlag von Halle ein »Alarmzeichen« und waren sich offensichtlich nicht bewusst, dass sie die Tat damit verharmlosen.
Der Gemeindeälteste Max Schwab schüttelt darüber den Kopf. Ihn hat das Attentat aufgewühlt. Er fühlt sich an die Pogromnacht 1938 erinnert, die er als Sechsjähriger in Halle erlebte. »Was muss denn noch alles passieren?«, fragt er sich. »Auch damals dachten viele, es wird schon nicht so schlimm.«
Igor Matriyets trägt nie Kippa.
Heute tut er es demonstrativ – »weil
alles anders ist«.
Manche Politiker, wie der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU), machen Politiker der AfD für die Tat mitverantwortlich. Herrmann sagt am Tag nach dem Anschlag: »Ein großes Problem sind auch die geistigen Brandstifter, die der Radikalisierung Vorschub leisten.« Dazu zähle er auch einige Politiker der AfD: »Ganz besonders übel hat sich Björn Höcke hervorgetan, wenn es darum geht, den Antisemitismus in Deutschland zu schüren.«
WEGBEREITER Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht sieht es ähnlich. Er sagt in einer Pressekonferenz am Tag nach Jom Kippur, die geistigen Wegbereiter solcher Taten säßen mittlerweile in den Volksvertretungen. »Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass NS-Sprachgebrauch wieder Einzug in Parlamente hält. Und ich hätte mir nicht vorstellen können, dass es wieder Mord und Totschlag gegenüber Andersdenken, Andersglaubenden und gegenüber Repräsentanten unseres Staates gibt.«
Die AfD allein dafür verantwortlich zu machen, sei jedoch zu kurz gedacht, sagt Katia Bruria Novominski, die Frau des Hallenser Rabbiners. Sie befürchtet: »Mit dem Fingerzeig auf die AfD stehlen sich manche Politiker aus der Verantwortung.« Man müsse andersherum fragen: Auf welchem gesellschaftlichen Nährboden konnte eine AfD entstehen? Am Tag danach versucht Halle, neben all dem Trauern und dem Großaufgebot an Politikern zur Normalität zurückzufinden. Auch am Hauptbahnhof, der während des Anschlags sicherheitshalber stundenlang gesperrt war, ist das zu beobachten. Die Menschen seien verhaltener als sonst, sagt eine Verkäuferin an einem Zeitungskiosk. Sie gebe deswegen allen Kunden den Wunsch für »einen ruhigen Tag« mit.
ENTSETZEN Die Betroffenheit nach dem Anschlag, das Entsetzen und die Trauer sind groß. Vor Ort ringen manche um Fassung, andere finden klare Worte. Im Stadtzentrum versammeln sich in den Tagen nach dem Anschlag immer wieder Hunderte Menschen, um der Opfer zu gedenken. Es gibt einen Gedenkmarsch zur Synagoge, und am Freitag vor Beginn des Schabbats setzt die Stadt mit einer Lichterkette ein weiteres Zeichen gegen Antisemitismus.
Es finden Mahnwachen statt. Daran nehmen unter anderem die Chefin der Grünen-Bundestagsfraktion, Katrin Göring-Eckardt, der sachsen-anhaltische SPD-Bundestagsabgeordnete Karamba Diaby und die Linken-Politikerin Petra Sitte teil. Zahlreiche Menschen bekunden vor Ort ihre Trauer um die beiden Erschossenen. Sie legen Blumen am Anschlagsort nieder und entzünden Kerzen. Alle wollen ein Zeichen setzen, ihre Anteilnahme und Solidarität bekunden. Eine Initiative verteilt Schleifen zum Anstecken, als Zeichen gegen Antisemitismus.
Auf dem Hallenser Marktplatz ist ein Kerzen- und Blumenmeer entstanden, ebenso an dem nahe gelegenen Dönerladen. An der gelben Backsteinwand vor der Synagoge liegen Blumen, und es brennen Kerzen. Auf einem mit Hand geschriebenen Plakat ist zu lesen: »Juden in Halle – wir stehen an Eurer Seite! Ihr seid nicht allein.« »Unfassbar«, »grausam«, »furchtbar« murmeln die Menschen, die an den Orten um die Opfer trauern.
Auch der 28-jährige Igor Matriyets hat sich am Tag nach der Tat auf den Weg in die Humboldtstraße gemacht. Er steht vor den Mauern der Synagoge und trägt demonstrativ seine Kippa – was er sonst nie tut, aus einem Gefühl der Unsicherheit heraus. Doch am Tag danach sei »alles anders«, sagt er. Der junge Mann ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde Halle, aber war am Jom Kippur nicht zum Gebet in der Synagoge. Aus den Nachrichten erfuhr er von der Tat und war geschockt.
Benjamin Leins, ein 32-Jähriger aus der Nachbarschaft, hat direkt gegenüber der Synagoge ein Plakat aus seinem Fenster gehängt. Es trägt die Aufschrift: »Humboldtstraße gegen Antisemitismus und Hass«. Der Kirchenmusikstudent wohnt hier und will nicht, dass der Täter und sein Anliegen im Fokus stehen. Die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde kennt er vom Sehen. Manche grüßt er. Zum Zeitpunkt der Tat habe er einen lauten Knall gehört, berichtet er.
PAULUSVIERTEL Das Paulusviertel gilt als beliebte Wohngegend in Halle, viele Studenten und Familien leben hier, es gibt zahlreiche Cafés und Ateliers. Doch auch die rechtsextreme Szene ist in der Stadt präsent. Montags hält ein bekannter Rechtsextremist regelmäßig Demos ab. Nur wenige Minuten Fußweg von der Synagoge entfernt, gibt es eine Immobilie, die der vom Verfassungsschutz beobachteten rechtsextremen Identitären Bewegung gehört.
Die Humboldtstraße ist eine kleine Straße mit alten Wohnhäusern und großen Bäumen. Mittendrin die Jüdische Gemeinde mit dem angrenzenden Friedhof. Am Tag nach der Tat dominieren die Polizei und die Präsenz der Medienvertreter das Bild.
Christina Feist hat das Geschehen an Jom Kippur hautnah miterlebt. Die 29-Jährige war in der Synagoge. Sie war extra mit einer Besuchergruppe aus Berlin angereist, um hier den höchsten jüdischen Feiertag zu begehen: »Wir haben gebetet.« Dann hörten sie einen lauten Knall. Immer wieder erzählt sie ihre Erlebnisse vor den Kameras und Mikrofonen der internationalen Presse, auf Deutsch, auf Englisch. Dann bricht sie ab, sie ist erschöpft.
»Die Geschichte mahnt uns,
die Gegenwart fordert uns«, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Was passiert ist, hat am Tag nach der Tat auch der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Halle, Max Privorozki, noch nicht verarbeiten können: »Es war furchtbar, ganz schrecklich.« Am Morgen dachte er noch, das müsse ein schlechter Traum gewesen sein. Das Geschehen zu verarbeiten, brauche Zeit, sagt er und fügt hinzu: »Gestern hatte ich Angst. Es war eine Katastrophe. So etwas hätte ich mir nie vorstellen können.«
HEIMAT Die 60-jährige Elena Dranichnikova konnte an Jom Kippur nicht in die Synagoge gehen, weil sie arbeiten musste. »Normalerweise bin ich zu Jiskor mit meiner Mutter immer in der Synagoge«, sagt sie, »doch diesmal nicht. Auch meine Mutter ist zu Hause geblieben. Sie ist 83 Jahre alt und wollte nicht allein gehen, sie hat immer Angst. Aber was bin ich froh! Was hätte alles passieren können!«
Knapp zehn Jahre ist es her, da sagte Elena Dranichnikova, die Mitte der 90er-Jahre Russland verlassen hatte und nach Deutschland gekommen war, in einem Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen: »Glück ist, eine Heimat zu haben – und das ist Halle.« Ob sie das heute wohl immer noch sagen würde? (mit epd/kna)