EILMELDUNG! Internationaler Strafgerichtshof erlässt Haftbefehl gegen Israels Premier Netanjahu

RIAS

»Großes Dunkelfeld«

»Die Corona-Pandemie befeuert Judenhass«: Benjamin Steinitz Foto: Theo Schneider

Herr Steinitz, der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) hat 2020 bundesweit 1909 antisemitische Vorfälle erfasst: etwa 15 Prozent mehr als 2019, als Ihr Verband erstmals bundesweite Zahlen präsentierte. Hat Sie dieser Anstieg überrascht?
Dieser Anstieg hat sich in den Jahresberichten der landesweiten Meldestellen bereits abgezeichnet. Hier spielte natürlich auch eine Rolle, dass drei der vier Meldestellen in ihrem zweiten Erfassungsjahr einen höheren Bekanntheitsgrad aufwiesen und deswegen auch auf eine verbesserte Datengrundlage zurückgreifen konnten. Gleichzeitig ist es ein Ausdruck der Grenzverschiebungen in öffentlichen Diskussionen, in denen antisemitische Haltungen immer offener zum Ausdruck gebracht werden.

Welche Rolle spielt die Corona-Pandemie?
Bundesweit hatte jeder vierte Vorfall einen direkten Bezug zur Pandemie, darunter waren auch zahlreiche Versammlungen gegen die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung, auf denen sich Teilnehmende und Redner mit den im Nationalsozialismus verfolgten Juden gleichsetzten, andere antisemitische Verschwörungsmythen präsentierten. Die Pandemie schuf eine Gelegenheitsstruktur, in der bereits vorhandene antisemitische Haltungen in der Gesellschaft häufiger artikuliert wurden. Das war auch im Alltag jüdischer Menschen spürbar, die mit Verschwörungsmythen konfrontiert oder gar für die Pandemie oder die Maßnahmen wie Lockdowns oder Impfungen verantwortlich gemacht wurden.

Waren die Corona-Schutzmaßnahmen wie Lockdowns und Kontaktbeschränkungen auch ein Grund dafür, dass es im vergangenen Jahr insgesamt zu weniger physischen Angriffen und gezielten Bedrohungen kam?
In den vergangenen Jahren ereigneten sich viele antisemitische Angriffe bei zufälligen Begegnungen zwischen Tätern und als jüdisch erkennbaren Menschen. Zu solchen kam es nun seltener, weil sich das öffentliche Leben ins Internet verlagerte. Wir haben also eine temporäre Verlagerung der Tatorte antisemitischer Handlungen ins Netz festgestellt.

Welche gesellschaftlichen Gruppen sind die Träger von Antisemitismus?
Die Gefahr für Jüdinnen und Juden kommt schon immer aus unterschiedlichen Richtungen – verschwörungsideologische Milieus während der Pandemie, anti-israelische Aktivisten insbesondere im Zuge der Mobilisierung vor dem Hintergrund militärischer Konflikte zwischen Israel und den islamistischen Terrororganisationen oder die konstante Bedrohung durch Rechtsextremismus. Die Diskussionen über die Täter und den politischen Hintergrund ihrer Taten sollten nicht dafür genutzt werden, den Antisemitismus des einen politischen Milieus gegen jenen eines anderen aufzurechnen. Ehrlich gesagt, gibt es basierend auf den uns gemeldeten Erfahrungen kaum eine gesellschaftliche Schicht oder ein politisches Spektrum, das nicht belastet ist.

Der Bericht für 2020 spiegelt vor allem systematische Erhebungen aus Bayern, Berlin, Brandenburg und Schleswig-Holstein wider; dort gibt es inzwischen regionale RIAS-Meldestellen. Muss man für das gesamte Bundesgebiet daher von einer großen Dunkelziffer an nicht bekannt gewordenen Vorfällen ausgehen?
Wir vermuten in allen Regionen Deutschlands ein großes Dunkelfeld! Für eine bessere Dokumentation erfordert es ein enges Netzwerk von meldenden Organisationen und Personen, das können Meldestellen nur vor Ort aufbauen. Daher geben die 472 antisemitischen Vorfälle, die uns im Gebiet ohne aktive zivilgesellschaftliche Meldestellen bekannt wurden, lediglich einen Hinweis darauf, dass Antisemitismus eben in jeder Region stattfindet. Die Anzahl nicht dokumentierter Vorfälle ist aber in jenen Regionen vermutlich noch größer! Glücklicherweise passiert auch etwas: In diesem Jahr haben wir bereits drei weitere landesweite RIAS-Projekte in Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen als jüngste Mitglieder im Bundesverband begrüßen dürfen. Wir hoffen in diesem Jahr noch auf Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und das Saarland.

Im Mai kam es in Großstädten wie Berlin anlässlich der jüngsten militärischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten zu offen antisemitischen Demonstrationen. Als Juden identifizierte Menschen wurden beleidigt, auf Synagogen wurden Brandanschläge verübt, israelische Fahnen an Rathäusern wurden angezündet oder gestohlen. Wie verbreitet ist israelbezogener Antisemitismus in Deutschland?
Israelbezogener Antisemitismus gehört zu den Formen des zeitgenössischen Antisemitismus, die insbesondere von der demokratischen Zivilgesellschaft, aber auch von den Medien nicht immer erkannt und so deutlich verurteilt werden wie beispielsweise Post-Schoa-Antisemitismus. Seit einem in dieser Hinsicht sehr ereignisreichen 2018 war die Anzahl, vor allem in Berlin, zwar zurückgegangen, und in dem Bericht für 2020 stehen andere Erscheinungsformen etwas stärker im Fokus. In diesem Mai hat die Eskalation im israelisch-palästinensischen Konflikt aber eine weitere Gelegenheitsstruktur für antisemitische Handlungen geschaffen. Aus mehreren politischen Milieus wurde für Versammlungen mobilisiert, auf denen es zu antisemitischen Erscheinungsformen kam. Vor allem ab dem 9. Mai kam es leider auch zu zahlreichen Gewaltvorfällen, sowohl gegen Menschen als auch gegen Synagogen.

Im aktuellen Bericht entfiel mit rund 1000 Vorfällen mehr als die Hälfte auf Berlin. Leben in der Bundeshauptstadt besonders viele Antisemiten?
Berlin hat auf jeden Fall ein großes Antisemitismusproblem, aber auch eines, das in den letzten Jahren immer besser beleuchtet wurde. RIAS Berlin ist schon seit 2015 aktiv und hat bereits ein sehr engmaschiges Meldenetzwerk aufgebaut – bei den Meldestellen, die seitdem dazugekommen sind, wird sich der Anstieg der Bekanntheit ebenfalls nach und nach in höheren Zahlen niederschlagen. Berlin hat zudem auch eine sehr hohe Dichte an jüdischen und israelischen Institutionen, die leider immer wieder postalisch, telefonisch oder im Internet angefeindet werden – auch das trägt zur hohen Fallzahl bei.

Mit dem RIAS-Geschäftsführer sprach Jérôme Lombard.

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