documenta

»Grenzen wurden überschritten«

Gleich zwei Mal befasste sich der Bundestag vergangene Woche mit dem Antisemitismus-Skandal auf der Kasseler Kunstschau documenta fifteen. Erst wurden am Mittwoch im Kulturausschuss in einem »Fachgespräch« Experten angehört, darunter der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, Daniel Botmann, der Sprecher des indonesischen documenta-Kuratorenkollektivs ruangrupa, Ade Darmawan, sowie die Kulturministerinnen des Bundes, Claudia Roth, und des Landes Hessen, Angela Dorn.

Der Einladung nicht gefolgt war documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann – wegen »einer Erkrankung mit hohem Fieber«, wie die Ausschussvorsitzende Katrin Budde (SPD) mitteilte. Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD), Vorsitzender des documenta-Aufsichtsrates, ließ sich gar wegen anderer wichtiger Termine entschuldigen. Bei zahlreichen Abgeordneten wurde das als Missachtung des Parlaments gewertet.

Einen Tag nach dem Ausschuss befasste sich auch das Plenum des Bundestags mit der Angelegenheit. CDU/CSU und AfD hatten Anträge eingebracht, die klare Konsequenzen forderten. In der Aussprache wurde deutlich, dass vor allem Botmanns Statement am Vortag großen Eindruck gemacht und viele Abgeordnete zum Nachdenken angeregt hatte.

SCHERBENHAUFEN Scharf hatte der Zentralratsgeschäftsführer die documenta-Führung kritisiert. Entgegen vorab gemachter Zusagen habe diese zugelassen, dass antisemitische Werke in Kassel gezeigt werden konnten. Dieser Skandal habe zu einem »massiven Vertrauensverlust für uns Juden in Deutschland gegenüber der kulturellen Elite« geführt. »Wir sitzen heute hier und begutachten einen Scherbenhaufen«, stellte Botmann klar.

Obwohl der Zentralrat im Vorfeld der Kunstschau auf die Verantwortlichen zugegangen sei, um auf problematische Dinge hinzuweisen und »eine ehrliche Befassung mit den eigenen Einstellungen und denen der Kuratorengruppe und Künstler« zu führen, sei immer wieder »beschwichtigt« worden – vor allem aber vonseiten der documenta-Leitung.

Am Ende sei dann Entsetzen hinzugekommen – »das Entsetzen über übelste antisemitische Darstellungen vor den Augen der Welt und der Schock über das unverzeihliche Verhalten der Leitung der documenta danach«. Namentlich nannte er Schormann und Geselle. So hätten sich die Verantwortlichen der Einsetzung einer Arbeitsgruppe verweigert, wie sie von Roth und dem Zentralrat vereinbart gewesen sei. »Die gewählte Repräsentanz des deutschen Judentums hat sehr deutlich diese Ängste signalisiert – sie wurden leider nicht gehört«, so der Geschäftsführer.

Nach dem Ausschuss befasste sich das Plenum mit der Angelegenheit.

Die anti-israelische BDS-Bewegung sei gerade für jüdische Künstler in Deutschland ein großes Problem. Viele hätten Angst, als jüdische Künstler erkannt und nicht mehr bei Festivals und anderen Veranstaltungen eingeladen zu werden. Die BDS-Bewegung habe eine starke Rolle im künstlerischen Milieu, so Botmann. Er verwies auch auf andere öffentliche Institutionen: »Direktoren und Intendanten, die der BDS-Ideologie Vorschub leisten, sind Fehlbesetzungen.« Es gebe Anlass, unter anderem beim Haus der Kulturen der Welt genauer hinzusehen.

rücktritt Botmann forderte den sofortigen Rückzug Schormanns. Die Generaldirektorin habe ihm persönlich im Vorfeld versprochen, es werde auf der documenta keinen Antisemitismus geben. Das habe sie nicht eingehalten. »Dass Frau Schormann immer noch im Amt ist, ist eine Zumutung. Man fragt sich ernsthaft, wie hoch der Grad an Toleranz für Antisemitismus eigentlich sein kann.« Auch Gitta Connemann wurde deutlich: »Antisemitismus zieht sich wie ein roter Faden durch die documenta fifteen«, sagte sie.

Sowohl im Ausschuss als auch im Plenum richteten zahlreiche Redner den Blick über die documenta hinaus auf den Kulturbetrieb insgesamt. Es gebe dort ein weit verbreitetes Problem, kritisierte Connemann und verwies auf die »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit«. Diese hatte sich Ende 2020 explizit gegen die Anti-BDS-Resolution des Bundestags vom Mai 2019 positioniert und damit eine breite Kontroverse im Land ausgelöst.

Unterschrieben hatten den »GG 5.3«-Aufruf auch die Leiter führender deutscher Kultureinrichtungen, darunter Hortensia Völckers, die Leiterin der Kulturstiftung des Bundes. Im Hintergrund hatte Medienberichten zufolge auch Andreas Görgen mitgemischt. Der damalige Leiter der Kulturabteilung im Auswärtigen Amt ist heute die rechte Hand von Kulturstaatsministerin Claudia Roth.

VERANTWORTUNG Auch Roth musste für ihr documenta-Krisenmanagement Kritik von Rednern aus den Reihen von CDU/CSU und AfD einstecken. Redner der Ampelparteien nahmen die Grünen-Politikerin dagegen ausdrücklich in Schutz oder würdigten gar ihre Bemühungen. Roths Parteifreund Erhard Grundl warf der Opposition sogar vor, die Debatte über den Antisemitismus bei der documenta zu nutzen, »ein Tribunal gegen deutsche Kulturinstitutionen zu inszenieren«.

Allerdings hatte sich auch Roth 2019 auf die Seite der Gegner des Entschließungsantrags des Bundestags gestellt, mit dem die BDS-Bewegung als antisemitisch eingestuft worden war. In ihrer Rede vor dem Kulturausschuss wies sie dagegen jegliche Verantwortung für die Vorgänge auf der documenta zurück. Die Schuld an dem Skandal liegt für Claudia Roth vielmehr in Kassel.

»Ein Versagen in der Planung und Durchführung der documenta« und ein »Wortbruch« ihr gegenüber sei das Verhalten der Verantwortlichen dort gewesen, donnerte sie. Bereits im Januar habe sie einen Austausch über die Frage des Antisemitismus auf der Kunstschau vorgeschlagen. »Es war nicht durchsetzbar«, behauptete sie.

BOYKOTT Sie habe die documenta immer gegen Kritik verteidigt, fügte sie hinzu, aber es gebe auch Grenzen der Kunstfreiheit. »Die wurden hier überschritten, und das muss Konsequenzen haben.« Roth hatte zuvor einen Fünf-Punkte-Plan vorgelegt, mit dem sie unter anderem künftig den Einfluss des Bundes auf den bislang von der Stadt Kassel und dem Land Hessen kontrollierten Aufsichtsrat der documenta-Gesellschaft ausweiten möchte.

Die Kulturstiftung des Bundes fördert die documenta mit insgesamt 3,5 Millionen Euro, Vertreter des Bundes sitzen aber seit 2018 nicht mehr im Aufsichtsrat der documenta – offenbar auf Initiative der Roth-Vorgängerin Monika Grütters (CDU) hin.

Ruangrupa-Sprecher Ade Darmawan sagte dem Kulturausschuss, man erfahre wegen der Diskussion aktuell große Belästigungen – »physisch und digital«. Die Anschuldigung gegen das indonesische Kuratorenkollektiv, eine anti-israelische documenta geplant zu haben, sei jedoch falsch. Darmawan wies auch die These zurück, es gebe einen »stillen Boykott« von Juden oder Künstlern aus Israel. Sehr wohl seien jüdische Künstler in Kassel vertreten. Beispiele nannte er keine.

kuratierung Darmawan – der in den vergangenen Jahren selbst Aufrufe zum Boykott Israels unterzeichnet hatte und deshalb als Sympathisant der BDS-Bewegung gilt – sagte, man habe sich bei der Kuratierung der documenta-Künstler bewusst »von nationalen, ethnischen und religiösen Verbindungen« lösen wollen.

Im Bundestag nahmen ihm das nicht alle Abgeordneten ab. Katrin Budde würdigte zwar den »nachdenklichen Beitrag« Darmawans, betonte aber dennoch, Grenzen seien überschritten worden. Petra Sitte (Die Linke) sagte, das Kollektiv Taring Padi habe sich zwar entschuldigt, könne in seinem 2002 geschaffenen Werk »People’s Justice« aber nach wie vor keinen Antisemitismus erkennen. Das zeige, so Sitte: »Sie haben den Kern unserer Debatte nicht verstanden und haben wahrscheinlich auch ein Perspektivproblem.«

Die Schuld an dem Skandal liegt für Claudia Roth in Kassel.

Die FDP-Abgeordnete Anikó Merten fragte: »Wer übernimmt nun die Verantwortung für dieses Kontrolldesaster?« Sie gab die Antwort gleich selbst: »Tatsächlich niemand.« Wie in einem Schneeballsystem sei die Verantwortung von ruangrupa an zahllose andere Kollektive weitergegeben worden, Kontrollinstanzen habe es keine mehr gegeben.
Erwartungsgemäß lehnten die Koalitionsfraktionen im Plenum Anträge von CDU/CSU und AfD ab, die sich vor allem kritisch mit Claudia Roths Agieren auseinandersetzten. Am Ball bleiben will die Politik trotzdem.

vertrauen Auch Hessens Kulturministerin machte das deutlich. Der Aufsichtsrat der documenta werde sich in Kürze mit der Angelegenheit befassen, sagte Angela Dorn im Kulturausschuss. »Wir müssen verlorenes Vertrauen zurückgewinnen – gerade im Hinblick auf die jüdische Gemeinschaft.«

Für Stirnrunzeln sorgte schließlich noch die Kulturausschussvorsitzende. Sie traf sich Ende der Woche mit dem palästinensischen Vertreter in Berlin, Laith Arafeh, zum Meinungsaustausch. Arafeh vermeldete anschließend auf Twitter, er habe im Gespräch »die zunehmende antipalästinensische Hetze« angesprochen, die darauf abziele, die Anliegen der Palästinenser aus dem öffentlichen Diskurs »herauszuzensieren«, auch bei der documenta. Was Katrin Budde darüber dachte, wurde zunächst nicht bekannt.

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