Wie viel Demokratie verträgt die Demokratie? Diese Frage bleibt stets relevant, seit es Demokratien gibt. Sokrates wurde in seiner Heimatstadt Athen, dem ersten Staat der Welt, der sich als Demokratie bezeichnete, unter anderem wegen »Missachtung der Götter« zum Tode verurteilt. Schon von einigen seiner Zeitgenossen wurde dieses Urteil als Skandal angesehen.
Heute, 2400 Jahre später, kann man in Deutschland zwar nicht wegen »Missachtung der Götter« angeklagt werden, wohl aber nach dem sogenannten Blasphemieparagrafen (§166 StGB) zur Verantwortung gezogen werden. Dieser besagt, dass jemand, der »öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören«, mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe zu belegen sei.
Rechtsprechung Das Paradoxe an diesem Gesetz (das allerdings nur sehr selten Anwendung findet) ist die Tatsache, dass es Terroristen, die sich durch den Inhalt bestimmter Schriften beleidigt fühlen, de jure die Macht gibt, darüber zu entscheiden, was in Deutschland veröffentlicht wird und was nicht. Durch einen Terroranschlag würden sie ja offensichtlich den Beweis erbringen, dass die infrage kommenden Publikationen geeignet sind, den öffentlichen Frieden zu stören. Würden die Gerichte streng nach den Buchstaben des Gesetzes handeln, müssten sie daraufhin die Publikationen verbieten und deren Herausgeber bestrafen.
Unter dem Eindruck der Terroranschläge in Paris hat die FDP den Vorschlag gemacht, den besagten Paragrafen aus dem Gesetzbuch zu streichen. Die meisten anderen deutschen Parteien können dieser Idee allerdings nichts abgewinnen. Die CSU fordert gar noch härtere Strafen für Gotteslästerung. Sowohl die evangelische als auch die katholische Kirche will keine Änderungen der derzeit gültigen Bestimmungen.
Gerhard Fürst, Medienbischof der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, meinte, Christen müssten es sich nicht gefallen lassen, wenn das, was ihnen »heilig ist, in den Dreck gezogen wird«. Und der Leiter des Islamischen Zentrums Hamburg, Ayatollah Reza Ramezani, erklärte, dass »Würde und Gefühle der Muslime« nicht im Namen der Freiheit verletzt werden dürfen. Auch nach westlichem Verständnis sei absolute Freiheit nicht zulässig.
Absolut Mit Letzterem hat Ayatollah Ramezani zweifellos recht. Freiheit kann niemals absolut sein. Ich habe nicht die Freiheit, jemanden zu töten, auch dann nicht, wenn er mich beleidigt oder meine Gefühle verletzt. Ich habe auch nicht das Recht, in der Öffentlichkeit zu fordern, man möge alle Muslime in Deutschland an die Wand stellen, als potenzielle Terroristen »prophylaktisch« einsperren oder deportieren, genauso wenig wie ich das Recht habe, Zuwanderer aus der Türkei als »Kanaken«, dunkelhäutige Menschen als »Affen«, Juden als »Saujuden«, Behinderte als »Krüppel« oder Homosexuelle als »warme Brüder« zu bezeichnen.
»Volksverhetzung« ist in Deutschland wie in den meisten anderen europäischen Ländern strafbar (§130, Abs. 1 StGB). Wer eine rassistische, sexistische, schwulen- oder behindertenfeindliche Karikatur veröffentlicht, riskiert eine Anklage. Dies ist, wie ich meine, absolut gerechtfertigt, weil Herkunft, Geschlecht, sexuelle Orientierung sowie die körperliche oder die geistige Verfassung für die meisten Menschen ein unabänderliches Schicksal bedeuten. Wer mir etwas vorwirft, das ich nicht ändern kann, wer mich für etwas verhöhnt, das ich mir nicht ausgesucht habe, verletzt meine Menschenwürde, weil die Herabwürdigung nicht meine Ansichten, sondern mein Menschsein als solches angreift.
Freier Wille Meine Weltanschauung, meine politischen, aber auch meine religiösen Überzeugungen kann ich hingegen wählen. In einer freien Gesellschaft ist es mein freier Wille, an etwas zu glauben oder nicht zu glauben.
Zum Wesen einer Demokratie gehört in erster Linie der kreative Diskurs – die Möglichkeit, Weltanschauungen, seien diese nun politische oder religiöse, infrage zu stellen, ironisch zu hinterfragen oder lächerlich zu machen. Diskurs zielt auf Erkenntnis und auf Veränderung ab, etwas, was für den Bestand einer freien Gesellschaft unerlässlich ist. Wenn uns diese wichtig ist, sollten wir jede Form der Kritik an dem, was uns heilig ist, wofür wir stehen, was wir tun oder lassen, aushalten können.
Dabei geht es nicht um bestimmte Ansichten, Religionen oder deren spezifische Traditionen oder darum, ob ein Gesetz oft oder selten angewendet wird, sondern ums Prinzip. Andernfalls müssten wir riskieren, dass auf ein Verbot weitere folgen, wenn sich die Rahmenbedingungen wieder ändern sollten.
»Auch wir Juden«, schreibt Rabbiner Joel Berger, Dozent an der Universität Tübingen, »müssen mit Karikaturen leben, die uns nicht gefallen, sie ertragen – und zwar täglich, so lange es sich nicht um Karikaturen von Stereotypen auf Stürmer-Niveau handelt.« Ich bin ganz seiner Meinung und halte Blasphemieverbote jeglicher Art für undemokratisch und kontraproduktiv.
Der Autor lebt als Schriftsteller in Salzburg, er verfasste unter anderem den Roman »Schimons Schweigen«.