Als Bundeskanzlerin Angela Merkel vergangene Woche die Aussetzung der Laufzeit und vorläufige Abschaltung von sieben alten Atomanlagen verkündete und für einen »Ausstieg mit Augenmaß« plädierte, hat sie eben dieses Augenmaß bewiesen. Sie tat es als Politikerin, Physikerin und Christin. Als machtorientierte Frau mit naturwissenschaftlicher Ausbildung und einer von ethischen Werten geprägten Erziehung.
Sie reagierte auf die Katastrophen in Japan, die so vieles deutlich gemacht haben. Erdbeben und Tsunami mahnen uns, dass wir wieder mehr Respekt vor der Natur haben müssen. Und das scheinbar Unmögliche, das Unfassbare, das sich in der Nuklearanlage Fukushima abspielt, zeigt uns eindringlich noch etwas anderes: Das Gleichgewicht zwischen Technik und Ethik hat sich verschoben.
Wo sind wir? Wenn nun in Deutschland und selbst in Israel die weitere Nutzung der Atomenergie diskutiert wird, stellt sich die Frage: Wo waren wir vorher gedanklich? Warum reagieren wir erst, wenn solche Tragödien passieren? Irgendwie scheint es, als bringe das Leiden den Menschen zu Einsichten, zu denen er nicht gelangt, solange es ihm (vor allem wirtschaftlich) gut geht. Dann nennen wir es Gottes Segen. Wenn aber plötzlich etwas schiefgeht, fragen wir: Wo ist Gott? Doch die zentrale Frage muss eigentlich lauten: Wo sind wir? Der Mensch ist auf der Erde, um sie zu bearbeiten und zu bewahren. Sie wurde dem Menschen gegeben, um sie zu nutzen, aber nicht auszunutzen.
Wir vermögen es, Technologien zu schaffen und diese zu nutzen. Zum Beispiel die Atomenergie. Nur muss sie auch richtig genutzt werden. Dabei hilft die Ethik, unser Glaube. Das Wissen des Menschen dient dazu, das ethische Potenzial, das in ihm steckt, stetig zu vergrößern. Dieser Grundgedanke findet sich auch im Bund zwischen Gott und dem Volk Israel.
Der Ewige sagt: Ich gebe dir die Gebote, wähle das Leben und das Gute. Es ist eine Wahl. Natürlich wird diese auch immer durch die Macht des Mammons beeinflusst. Unternehmen müssen gewinnorientiert arbeiten, auch Energiekonzerne. Und Reichtum ist im Judentum keine Sünde. Aber es muss stets eine Balance geben zwischen der Welt, in der wir leben, und dem, was wir von ihr bekommen und nehmen können.
In einer Gesellschaft, in der Naturwissenschaft und Technologie zum Ersatz für Religion wird, schaffen wir einen neuen Moloch. Schnell werden wir ihm wie einem Götzen dienen, anstatt ihn zu unserem Diener zu machen. Die Kräfte, die unkontrollierbar sind – sie kontrollieren uns. Das geschieht, wenn Ethik nur noch als Privatangelegenheit betrachtet wird und nicht als etwas, das uns leiten soll.
Theorie Für technische Bildung und Forschung ist Geld vorhanden, auch, weil die Industrie aus eigenem Interesse Unterstützung gewährt. Doch die Geisteswissenschaften werden immer weniger gefördert. Häufig verweisen vor allem jüngere Menschen darauf, dass sie an die Wissenschaft glauben, weil sie auf beweisbaren Tatsachen beruht.
Dann verweise ich gerne auf die Schöpfung. Da gibt es auf der einen Seite die Erzählung vom Urknall, dem Big Bang. Auf der anderen Seite haben wir die biblische Schöpfungsgeschichte. Beides sind Theorien. Doch nur eine trägt eine Ethik, eine Verpflichtung in sich. Die andere zeigt uns lediglich Prozesse auf. Die prophetische Stimme der Religion sollte viel mehr gehört werden. Glaube ist im Hebräischen ein Synonym für Vertrauen. Und das Vertrauen ins Göttliche ist wichtig.
Jeder Student sollte daher etwas über Ethik und Naturwissenschaften erfahren, die Bibel und andere philosophische Schriften lesen. Im Haifaer Technion gibt es einen für alle Lernenden verpflichtenden Kurs über Judentum. Und wer Geisteswissenschaften studiert, sollte Grundkenntnisse über Naturwissenschaften erlangen, wissen, wie dort gedacht und geforscht wird.
Es existieren zwei parallele Linien, die sich wie ein rotes Band durch die Geschichte ziehen: die ethisch-geistige und die technische. Wichtig ist die Balance zwischen beiden. Wenn das nicht gegeben ist, wenn Technik über Ethik herrscht, dann sind die Folgen katastrophal. Das hat uns Japan wieder einmal auf erschreckend grausame Weise gelehrt. Deshalb gilt: Mensch, du hast doch viel Vernunft. Sei vernünftig!
Der Autor ist liberaler Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Dozent am Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam.
Solidarität und Spenden
Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat den Menschen in Japan nach dem Erdbeben, dem Tsunami und angesichts der Nuklearkatastrophe sein Beileid ausgedrückt. »Worte reichen nicht aus, um Bestürzung und Trauer zu fassen, die uns erfüllen«, schrieb Präsident Dieter Graumann in einem Brief an den japanischen Botschafter in Berlin, Takahiro Shinyo. Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland stehe an der Seite der Japaner und werde dazu beitragen, Hilfe für das Land zu ermöglichen. Man begreife in diesen Tagen, »wie nah zusammengerückt, wie klein die Welt heute geworden ist und wie groß unsere gemeinsame Verantwortung«. Der Zentralrat ruft zu Spenden für die Opfer in Japan auf.
Weitere Informationen: www.zentralratdjuden.de