Als Kind von acht oder neun Jahren entwickelte ich eine Theorie über verschiedene Arten von Juden. Sie basierte mehr oder minder auf der Chilisauce auf unserem Esstisch. Die Sauce, die meine Mutter immer kaufte, hatte an der Seite der Flasche das Bild eines Thermometers, dessen Skala von »mild« über »mittelscharf« bis »sehr scharf« reichte.
Mir schien in meinem kindlichen Denken, dass die drei Arten von Juden – oder, genauer, die Synagogengemeinden, denen die Juden, die ich kannte, angehörten – vergleichbar eingeordnet werden könnten: Reformjuden waren mild, Konservative mittelscharf und Orthodoxe sehr scharf.
intensität Hätte man mich damals gefragt, was genau meiner Meinung nach analog zur Schärfe von Chilischoten gemessen wurde, hätte ich wahrscheinlich geantwortet, dass es um die Menge an »jüdischem Zeug« ginge, das man machen musste. Meine eigene Familie hätte ich irgendwo zwischen mittelscharf und sehr scharf eingeordnet. Meine Theorie war deskriptiv, nicht normativ: Ich hatte, soweit ich mich erinnere, kein Bedürfnis nach der religiösen Entsprechung brennend scharfer Habaneroschoten.
Etwa zur selben Zeit fuhr meine Mutter mit uns über die Bucht von San Francisco zu einer großen Solidaritätskundgebung für die sowjetischen Juden. Sie fand im Tempel Emanu-El statt, der großen alten Reformsynagoge, die 1850 erbaut worden war. Gemessen am Standard amerikanischer Synagogen ist Emanu-El praktisch eine mittelalterliche Kathedrale.
So jedenfalls kam es mir vor. Ein halbes Dutzend unserer kleinen Bethäuser auf der anderen Seite der Bucht hätten bequem in das Gebäude gepasst; die Pfeiler, die hinauf zum prächtig gewölbten Dach reichten, schienen mir so groß wie die Redwoodbäume im Park, wenn nicht gar wie die Zedern des Libanon. Das und weitere Erfahrungen regten mich zu einer Ergänzung meiner Theorie an: Der Reichtum von Gemeinden verhält sich umgekehrt proportional zu deren religiöser »Schärfe«.
Bücherregal Meine kindliche religiöse Schärfeskala passte ziemlich gut zur volkstümlichen Klassifizierung, wie sie in der amerikanisch-jüdischen Alltagssprache üblich ist. Wenn ich hörte, dass jemand sich oder andere als »sehr reformiert« beschrieb, hieß das nie, dass bei diesen Leuten die prophetischen Ideale der Gerechtigkeit Thema der Tischunterhaltung waren, oder dass auf ihrem Bücherregal die Werke Abraham Geigers standen. Es bedeutete, dass sie kein ausgeprägt jüdisches Leben führten. Es gibt sogar eine ganze Reihe platter jüdischer Witze, die darauf basieren: »Wie reformiert ist er? So reformiert, dass ...«
Irgendwann allerdings hakte ich meine kindlichen Theorien ab. Ich lernte jüdisch gebildete und ernsthafte liberale Juden kennen. Gleichzeitig betete ich in imposanten, wohlhabenden orthodoxen Synagogen. Und als ich mich später mit den ideologischen Wurzeln der verschiedenen jüdischen Richtungen befasste, begann ich zu verstehen, dass es keine einheitliche Skala gibt, an der sie alle gemessen werden können.
Die Begründer des Reformjudentums betrachteten sich bestimmt nicht als halachisch »mild«; die konservative Bewegung würde sich keinesfalls gefallen lassen, dass man sie als weniger gesetzestreu einstuft als die Orthodoxie – nur dass sie die jüdischen Gesetze als historisch gewordene versteht. Und dann gibt es noch Masorti und die vielen Spielarten des jüdischen Säkularismus, bis hin zum klassischen Zionismus. (Ich kannte eine Frau in Los Angeles, die sich von ihrem Freund trennte, weil der am Schabbestisch Bundisten mit Buddhisten verwechselte.)
baalei teschuwa Und dennoch. In mancherlei Hinsicht erklärt meine Chilisaucensoziologie Teile meiner eigenen jüdisch-amerikanischen Erfahrung besser als die jeweiligen Selbstverständnisse der einzelnen Richtungen.
Ich habe zum Beispiel viele Baalei Teschuwa kennengelernt, die zum »traditionellen« religiösen Leben zurückgefunden haben. Manche von ihnen haben den Weg vom Reformjudentum über die konservative Richtung genommen, bevor sie schließlich in der Orthodoxie ankamen. Nur selten, selbst bei Intellektuellen, kann dieser Weg allerdings als einer beschrieben werden, bei dem der Baal Teschuwa zunächst überlegt, dass die Halacha nicht mehr der beste Ausdruck der gesellschaftlichen und spirituellen Ideale des Judentums in der modernen Welt ist, um dann zu entscheiden, dass die Halacha als dynamischer historischer Prozess verstanden werden muss, bevor er schließlich beim Glauben an das ewige Gesetz, wie es am Sinai verkündet wurde, ankommt.
Besser lässt sich der Weg dieser Baalei Teschuwa so beschreiben: Sie wünschen sich einen Alltag, der stärker von ihrem Judentum geprägt ist. Diesen Wunsch finden sie in orthodoxen Gemeinschaften dieser oder jener Art erfüllt. Das gilt, denke ich, auch für viele Juden, die in der konservativen Bewegung groß geworden sind und die sich inzwischen als orthodox identifizieren.
Der große Soziologe Emile Durkheim hat den Begriff der »sozialen Fakten« geprägt – Glaubenssätze, Normen und Praktiken, die die Kraft besitzen, das Leben des Einzelnen zu strukturieren. Was Baalei Teschuwa suchen, ist die Möglichkeit, ihr Judentum als harte gesellschaftliche Tatsache zu leben.
minjamim Kürzlich unterhielt ich mich über dieses Thema mit einem bekannten amerikanisch-israelischen Journalisten. Er sagte: »Wer total jüdisch sein will, hat drei Möglichkeiten: erstens, liberaler oder konservativer Rabbiner zu werden, zweitens, orthodox zu leben – oder, drittens, Alija zu machen.« Dagegen ließe sich einwenden, dass man auch, wie ich, Professor für Jüdische Studien werden kann, obwohl das kein richtiges Gegenbeispiel ist.
Das beste Gegenbeispiel kommt aus der Welt der unabhängigen Minjanim, deren Mitglieder oft ein intensives jüdisches Leben des Lernens, der Rituale und des Gebets führen, bei einer gleichzeitigen nicht-orthodoxen Haltung zu Glauben und Praxis. Ob diese Minjanim und die ihnen nahestehenden Institutionen wie Mechon Hadar und Limmud die gesellschaftliche Dynamik des amerikanischen Judentums ändern können, bleibt jedoch abzuwarten.
Als ich kürzlich den Bericht des Pew Research Center A Portrait of Jewish Americans las (vgl. Jüdische Allgemeine vom 2. Oktober 2013), dämmerten mir zwei Erkenntnisse.
Die erste war, wie klein die jüdische Blase ist, in der ich lebe. Während ich in orthodoxen Synagogen mit Baalei Teschuwa betete, hat die amerikanisch-jüdische Welt den entgegengesetzen Weg eingeschlagen. Im Pew-Report heißt es: »Innerhalb aller drei religiösen Richtungen geht der Wechsel hin zum weniger traditionellen Judentum ...
Ein Viertel der orthodox Aufgewachsenen gehört inzwischen dem reformierten oder konservativen Judentum an, und 28 Prozent derer, die reformiert erzogen wurden, haben sich aus den Reihen des religiösen Judentums völlig verabschiedet.« In solchen Sätzen wird die Schwerkraft des amerikanisch-jüdischen Lebens offenbar. Die entgegengesetzte Tendenz wirkt im Vergleich unbedeutend, wie ein subkulturelles Rinnsal.
absetzbewegung Meine zweite Erkenntnis war, dass meine kindliche Theorie der Wirklichkeit des amerikanisch-jüdischen Lebens näher kam als meine spätere, anspruchsvolle Sicht als Erwachsener. Die religiösen Ideologien, die ich so ernst genommen hatte, wirken jetzt wie bloße Begleiterscheinungen, Schaum auf dem Wasser vergleichbar.
Nehmen Sie etwa folgende Frage, die die Forscher von Pew gestellt haben: »Wie wichtig ist Religion in Ihrem Leben?« 83 Prozent der orthodoxen Juden antworteten mit »sehr wichtig«, bei den Konservativen waren es weniger als die Hälfte (43 Prozent), und nur 16 Prozent der Reformjuden gaben an, dass Religion ihnen sehr wichtig sei. Bei Juden ohne Zugehörigkeit zu einer der Richtungen lag die Zahl bei acht Prozent.
Da die Forscher, als sie nach Religion fragten, diese mit Sicherheit nicht als die Orthodoxie definiert hatten, fällt es schwer, nicht zu schlussfolgern, dass manche es scharf mögen – und wir diese Juden orthodox nennen –, andere die Milde bevorzugen und wir diese Juden als reformiert bezeichnen. Die Konservativen finden sich in der rapide schrumpfenden Mitte.
Was die Juden »ohne Religionszugehörigkeit« angeht, sieht es so aus, dass diese nicht, wie die Pew-Forscher gelegentlich zu unterstellen scheinen, jüdische Säkularisten sind, sondern zumeist Juden »auf der Suche nach dem Ausgang«. Bei näherer Betrachtung kommt mir mein Chilisaucenmodell des amerikanischen Judentums erschreckend aktuell vor.
Abraham Socher ist Professor für Jüdische Studien am Oberlin College im US-Bundesstaat Ohio und Chefredakteur der »Jewish Review of Books«, in deren Winterausgabe 2013/2014 dieser Essay ursprünglich erschienen ist.
jewishreviewofbooks.com/articles/609/salsa-and-sociology-3/