Ahmad Mansour: Wie geht es dir, Shelly?
Shelly Kupferberg: Ich hätte dich das jetzt auch gefragt. Wahrscheinlich wie uns allen. Schwer also. Herr Schuster hat vorhin so schön gesagt, als ich ihn das fragte: »Gesundheitlich gut, aber …« Ich glaube, wir alle hatten noch nie so ein fragiles Gefühl wie in diesen Wochen in unserem Dasein.
Mansour: Ja.
Kupferberg: Vieles poppt auf, was man vielleicht schon hätte erahnen können, aber in der Wucht ist es heftig und schlimm, und mir blutet ständig das Herz, wenn ich die Bilder aus Nahost sehe, egal von welcher Seite. Ich gehe seither mit so einer großen Traurigkeit und Erschütterung durch die Welt. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so ein Fragilitätsgefühl tatsächlich am eigenen Leib spüre. Das ist neu, das ist wirklich neu und keine besonders schöne Erfahrung. Wie geht es dir?
Mansour: Ich mache jetzt einen Waffenschein – das ist meine Art und Weise, damit umzugehen. Ich habe mir leider die ganzen Bilder und Videos angesehen, und seitdem kann ich nicht schlafen. Ich entwickle Szenarien und frage mich: »Wo bringst du dann das Kind hin, wenn irgendwann jemand vor der Tür steht?« Und das geht so vielen Leuten so.
Was mich wirklich interessiert, ist diese indirekte Traumatisierung. Deutsche Juden, die vielleicht einen Bezug zu Israel oder eine Affinität zu Israel haben, die vielleicht da waren, ganz viele israelische Freunde haben, die hier seit Jahren leben und eigentlich mit Israel abgeschlossen hatten – jetzt holt uns das Land alle ein.
Kupferberg: Damit sind wir schon im Gespräch. Bei unserem letzten Treffen hast du gesagt, dass die geschwächte Situation Israels unter dieser sehr problematischen Regierung ausgenutzt werden könnte. Und genau das ist eingetroffen, mit einer Wucht, wie wir es uns gar nicht hätten ausmalen können und wollen. Das war fast ein bisschen prophetisch, was du da gesagt hast. Ich habe mir diese Bilder auch angesehen. Erschütternd. Ich habe keine Worte dafür.
Mansour: Das geht mir genauso. Manchmal sollte man auch nicht mehr versuchen, das zu beschreiben. Das einzige Hoffnungsvolle in diesen hoffnungslosen Tagen ist, dass ich mir absolut sicher bin, dass diese Regierung nach dem Krieg nicht mehr da sein wird und vielleicht andere Kräfte entstehen.
Einer der Fehler, die Israel gemacht hat, die die israelische Politik, die die israelische Gesellschaft gemacht haben, die aber auch wir hier in Europa immer wieder machen: Wir versuchen, Terroristen rational zu verstehen. Und das funktioniert nicht, das wird nie funktionieren. Und ich stehe nicht auf beiden Seiten. Natürlich tun mir die Menschen leid, Leute wie mein Opa und mein Vater, unbeteiligte Menschen.
Aber ich glaube, wenn es aus dem Holocaust eine Lehre geben soll, dann ist es, dass Israel diesen Krieg gewinnen soll. Wenn es ihn nicht gewinnt, dann haben wir nicht nur in Israel, sondern auch hier in Europa massive Probleme, und das will keiner hier verstehen.
Kupferberg: Das will keiner verstehen. Im Gegenteil, es wird teilweise auch noch umgedeutet auf eine Weise von Menschen, wo ich dachte: Das kann jetzt nicht wahr sein. Wenn die Hamas positiv konnotiert oder relativiert wird. Wobei es doch diese Perversion gibt, die eigenen Leute auszuliefern, und das Dilemma, vor dem Israel steht: Wie umgehen damit? Ich habe gestern wieder so einen Film gesehen, wo ein israelischer Soldat Waffen in einem Kindergarten in Gaza findet.
Was sagst du da? Es ist einfach nicht zu fassen! Wenn man dem Ganzen irgendwie – ich will nicht sagen, etwas Positives, weil es nichts Positives gibt – etwas Konstruktives abgewinnen will: Einerseits, finde ich, eskalieren oder zeigen sich auf eine kathartische Art so viele Debatten, die in den letzten Jahren in Deutschland geführt worden sind. Die krachen uns jetzt mit Wucht auf den Tisch. Also BDS und Mbembe und die documenta, das waren ja teilweise auch schon ganz unschöne Debatten mit linken, vermeintlich linken Positionen, wo man dachte: Jetzt muss man erst einmal alles auseinanderwursteln. Wer ist wo und warum und wieso, und wo ist die Differenzierung?
Das war manchmal schon so was von frustrierend in den letzten Jahren. Und jetzt geht es wirklich um Sein oder Nichtsein, und das ist vielleicht eine Möglichkeit – hoffe ich zumindest –, wieder zu einer klareren Sprache zu finden. Dass es jetzt eine politische Lösung braucht, das ist, glaube ich, jetzt allen wirklich ganz, ganz deutlich geworden. Fest steht: Die Welt sah noch ganz anders aus, als wir uns das letzte Mal trafen. Zumindest haben wir das angenommen. Ich denke ganz oft an Stefan Zweigs Die Welt von gestern, das war auch so ein Epochenwechsel, und so ein bisschen fühlt sich das auch jetzt an …
Josef Schuster: Also, ich glaube, wir haben nicht nur angenommen, dass die Welt damals, zu diesem Zeitpunkt, eine andere war. Sie war eine andere. Keiner von uns konnte ahnen, was kommt, und ich glaube, mit dieser neuerlichen Zeitenwende hat keiner gerechnet.
Kupferberg: Nein, zumindest wir nicht. Vielleicht waren ja einige dann doch in diese Pläne eingeweiht … Wie hat sich denn Ihr Leben seit dem 7. Oktober verändert, Herr Schuster?
Schuster: Was mich persönlich angeht, habe ich ja, und das ist gar nichts Neues, als Präsident des Zentralrats (…) Personenschutz. Der wurde, das will ich auch sagen, angepasst, das heißt, noch ein bisschen erweitert oder verschärft. Darüber hinaus hat sich mein eigenes Leben insoweit verändert, als dass diese ehrenamtliche Tätigkeit als Präsident des Zentralrats inzwischen über einen Vollzeitjob hinausgeht. Das liegt aber in der Natur der Sache, liegt in dem Thema.
Gesundheitlich geht es mir gut, psychisch geht es mir nicht so gut. Nicht wegen der Belastung, glaube ich – ich halte mich für ziemlich belastungsfähig. Mir geht es wie vielen anderen auch, die Verwandtschaft in Israel haben (ich habe einen Cousin und eine Cousine dort): Man nimmt so ein Thema anders wahr, habe ich das Gefühl. Manche anderen kriegerischen Auseinandersetzungen, die relativ weit entfernt sind (Stichwort Sudan oder Ähnliches), betrachtet man sicherlich viel mehr aus einer Außenperspektive. Hier fühlt man sich zum Teil in einer Innenperspektive.
Kupferberg: Gleiche Frage an dich, Ahmad: Wie hat sich dein Leben verändert seit dem 7. Oktober?
Mansour: Das sind die schwersten Wochen meines Lebens. Und wir haben darüber gesprochen, wie schwierig es schon im Sommer war mit den Diffamierungskampagnen. Ich habe am 7. Oktober ausgeschlafen. Ich glaube, meine Tochter und meine Frau sind um acht aufgewacht. Meine Frau hat schon in den Nachrichten mitbekommen, dass irgendetwas in Israel los ist, sie hat mich aber schlafen lassen – und das war das letzte Mal, dass ich wirklich richtig geschlafen habe, aus sehr unterschiedlichen Gründen. Erst einmal besteht natürlich genau wie bei Herrn Schuster die Gefährdungslage. Was ich lesen musste in den letzten Wochen, sage ich mal, das erträgt keine Seele. Vor allem auch als Araber, als Muslim als Verräter dargestellt zu werden, ist nicht einfach.
Ich habe, glaube ich, letztes Mal gesagt, dass ich schon in den letzten Jahren viele arabische Freunde verloren habe. Jetzt beginne ich, auch Familienmitglieder zu verlieren, die nicht mehr mit mir reden wollen, obwohl ich eigentlich nur auf Twitter und in den Medien aktiv bin. Ich schreibe auf Facebook und so weiter nicht so viel, weil ich auch keine Lust habe, Hasskommentare zu löschen oder Profile zu blockieren. Dann die Bilder, die ich gesehen habe (und das ist einer der großen Fehler meines Lebens, habe ich ja vorhin erzählt): Sie lassen mich einfach nicht los.
Gestern habe ich mit einer Journalistin gesprochen, die wollte diesen 47-minütigen Film gucken, den jetzt hier die israelische Botschaft anbietet, und obwohl ich absolut dafür bin, dass die Leute das gucken, habe ich ihr abgeraten, weil ich weiß, was das mit mir gemacht hat. Und natürlich auch die absurde Situation, dass meine Familie auch – ganz anders, nicht vergleichbar mit den Leuten im Süden – massiv betroffen ist.
Sie sitzen zu Hause, meine Eltern hatten, glaube ich, heute den ersten Tag, an dem es keinen Alarm gab. Und dann noch die Arbeitsbelastung natürlich. Alle, die diese Themen vorher vermieden haben, wollen auf einmal darüber reden. Wenn man diese Themen vorher angesprochen hat, dann war man Rassist oder rechtsradikal. Und auf einmal sind die Themen da.
Schuster: Wenn ich noch etwas ergänzen darf, was meine Person angeht: Was mich ganz besonders bedrückt, ist Israel einerseits, aber auch andererseits, was wir in Deutschland erleben. Am 7. Oktober gab es eine einhellige (fast einhellige) pro-israelische Meinung, und schon damals waren viele der Meinung – ich auch –, diese Stimmung wird kippen. Zum Teil kippt diese Stimmung in der deutschen Bevölkerung.
Aber was wir jetzt erleben an Hasspropaganda von einigen muslimischen Verbänden (nicht alle, ich stelle sie nicht unter Generalverdacht, da bin ich nicht dabei, aber bei einigen muslimischen Verbänden ist das der Fall) und was wir von in erster Linie arabischstämmigen Muslimen auf deutschen Straßen erleben, ist ja doch höchst bedenklich. Ich habe volles Verständnis, wenn man sich Gedanken und Sorgen um die Zivilbevölkerung in Gaza macht.
Ich glaube, das sollte jeder wohlmeinende Mensch tun. Ich habe nur kein Verständnis dafür, wenn das mit eindeutig antisemitischen Aussagen auch bezogen auf jüdische Menschen im Ausland, in diesem Fall in Deutschland, verbunden wird. Und es ist erschreckend, wenn die Hamas zu einem »Tag des Zorns« aufruft, sodass jüdische Eltern sich nicht mehr trauen, ihre Kinder in jüdische Einrichtungen, Kindergärten und Schulen zu schicken an diesen Tagen. Das ist mehr als erschreckend.
Kupferberg: Ja, und das Nächste ist ja, Herr Schuster, was Sie gerade schon angedeutet haben: auch die Reaktionen in Deutschland von unterschiedlichsten Menschen. Dieses subjektive Sicherheitsgefühl für viele jüdische Menschen (ich denke, auch viele muslimische Menschen) ist hierzulande in den letzten Wochen seit dem 7. Oktober wirklich infrage gestellt worden. Die Frage ist: Wie wird darauf reagiert? Ich würde gern wissen, wie Sie das erleben, was Sie von Zivilgesellschaft und Politik erwarten in dieser Situation und was Sie sehen. Wie problematisch ist das? Worüber freuen Sie sich, und was macht Ihnen Angst?
Schuster: Ich freue mich – oder ich begrüße es, und es ist erfreulich –, dass wir seitens der Politik der demokratischen Parteien eine einhellige Meinung pro Israel und gegen die Terrororganisation Hamas sehen. Die Bekenntnisse der Politik erscheinen mir ehrlich und glaubhaft. Das ist der positive Aspekt. Worüber ich doch sehr irritiert bin, ist, dass ich in der derzeitigen Auseinandersetzung ein dröhnendes Schweigen der meisten Kultureinrichtungen höre. Nämlich gar nichts. Das gilt nicht für alle! Der Deutsche Kulturrat hat hier eine andere Einstellung. Aber die meisten Kulturschaffenden schweigen.
Und wovon ich auch etwas enttäuscht bin, ist die Justiz. Ich erwarte vonseiten der Justiz, dass dann, wenn die Grenze der Strafbarkeit überschritten ist, die Möglichkeiten, die der Rechtsstaat bietet, nach dem Strafgesetzbuch nicht nur angewandt, sondern auch ausgeschöpft werden. Ich erwarte, dass hier Urteile gefällt werden, entsprechend dem Gesetzbuch, aber doch mit einer entsprechend abschreckenden Wirkung. Das vermisse ich leider.
Mansour: Ich möchte jetzt nicht solche Political-Correctness-Antworten geben. Ich möchte erst einmal frei reden, und dann können wir das ergänzen. Zunächst halte ich das, was in den Medien und von dir, Shelly, jetzt angekommen ist, für ein bisschen befremdlich. Keine Kritik an dir! Aber wenn Leute anfangen zu sagen »von jüdischer und muslimischer Seite«, frage ich mich: Warum ist die muslimische Seite jetzt auch wieder ein Opfer? Also, wo sind die muslimischen Kinder, die gerade diskriminiert werden aufgrund dieses Nahostkonflikts? Wo gehen sie nicht in die Schulen, wo werden sie bedroht?
Natürlich gibt es viele muslimische Kinder, die vielleicht betroffen sind von den Bildern, die sie aus Gaza sehen, wo die Eltern sie das ungefiltert sehen lassen. Aber diese Narrative »Die Palästinenser werden unterdrückt, sie haben keinen Platz«? Regelmäßig sitzen irgendwelche Experten in Talkshows, die wenig Ahnung haben vom Nahostkonflikt, aber viele Emotionen schüren und Vorurteile verbreiten, teilweise auch Unwahrheiten. Manche Kommentare in den Zeitungen nach dem 7. Oktober kann ich kaum ertragen. Also, ich sehe nicht die Symmetrie. Ich sehe die Schmerzen von beiden, aber seit dem 7. Oktober geht es in Deutschland um einen Zustand, den eine Demokratie und vor allem ein Deutschland mit einer Erinnerungskultur nicht akzeptieren kann. Es geht um die Zukunft jüdischen Lebens.
Ich glaube, dass die meisten Juden doppelt betroffen sind. Wenn ich ihre Seele psychologisch verstanden habe, dann leben sie immer mit dem Gefühl: Falls es hier eng wird, dann haben wir immer noch Israel, dann können wir irgendwann nach Israel gehen. Dieser Plan B wird gerade massiv infrage gestellt, auf eine Art und Weise, die noch nie da gewesen ist. Dass Terroristen nicht nur eindringen in israelische Städte, sondern dass Polizei und Militär über Stunden nicht eingreifen, ist traumatisch.
Man stelle sich vor, wir haben hier in Deutschland irgendwo ein Feuer an einem Gebäude, und man ruft bei der Polizei, bei der Feuerwehr an, und die kommen nicht. Das ist etwas, was natürlich auch ankommt bei den Juden hier. Und dann lassen sie ihre Kinder nicht zur Schule gehen oder überprüfen erst einmal, wenn sie ihre Kinder morgens zur Schule schicken, ob sie irgendetwas Jüdisches an sich haben oder irgendwo etwas auf Hebräisch steht.
Ich habe bei mir zu Hause fast so eine Art Selbsthilfegruppe mit meinen Freunden. Wir treffen uns einmal in der Woche. Das sind Menschen, die wirklich psychisch am Ende sind, aus sehr unterschiedlichen Gründen. Das sind Leute, die gedacht haben, ihr Jüdischsein spiele überhaupt keine Rolle, und auf einmal wird bei Rewe gefragt: »Bist du der Jude von nebenan?« Das sind Situationen, die ein Land nicht akzeptieren kann, und mit dieser Dringlichkeit möchte ich das auch transportieren. Was hier gerade vor sich geht, ist nicht nur inakzeptabel, es ist ein Armutszeugnis für die Demokratie insgesamt.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags
Ahmad Mansour, Josef Schuster und Shelly Kupferberg: »Spannungsfelder. Leben in Deutschland«. Herder, Freiburg im Breisgau 2024, 176 S., 20 €