Mit dem Abstand der Jahre wird aus Erlebtem Geschichte – und je größer der Abstand wird, umso mehr kommt Licht in das Verstehen einer Person oder Epoche. Aus dem »Dunkel der Geschichte wird Dämmer« (Günter Kunert).
Wir werden gerade Zeugen, wie in den USA, aber auch in England, im öffentlichen Raum stehende Denkmäler gestürzt oder beschädigt werden, weil die Dargestellten nicht der politischen »Correctness« der sich gerade und zu Recht gegen Rassismus empörenden Demonstranten entsprechen.
Churchill Dabei wird nicht gefragt, ob das Denkmal vielleicht kunsthistorisch wertvoll ist, auch nicht, ob die dargestellte Person nicht auch Positives zum Lauf der Welt beigetragen hat. Vielmehr bahnt sich blinde Zerstörungswut ihren Weg und legitimiert sich scheinbar mit Zitaten der Person, die heute nicht mehr der politischen Korrektheit entsprechen. Mag sein, dass sich Winston Churchill rassistisch geäußert hat, aber er war auch der wichtigste Politiker Europas bei der Befreiung des Kontinents von der NS-Besatzung.
Kann man sein Denkmal so einfach besudeln oder gar zur Seite schaffen?
Berlin hat seit 2016 auf der Zitadelle Spandau ein Museum der gestürzten Denkmäler. Wie viele Friedrichs oder Friedrich Wilhelms sieht der Besucher da, denen die Nasen oder Köpfe abgeschlagen wurden? Obwohl es in dieser Ausstellung auch ein Kapitel über die Zeit von 1933 bis 1945 gibt, befindet sich dort keine Hitlerbüste oder gar ein Standbild des »Führers«, denn der hatte in seinem Personenkult zwar nichts dagegen, dass Briefmarken sein Konterfei tragen und wichtige Straßen oder Plätze nach ihm benannt werden, hat sich aber Denkmäler verbeten.
Siegessäule Trotzdem steht das am 20. April 1939 – Hitlers 50. Geburtstag – eingeweihte größte Hitler-Denkmal ganz selbstverständlich mitten in der Bundeshauptstadt: Albert Speer hatte die Siegessäule vom Platz vor dem Reichstagsgebäude zum »Großen Stern« inmitten seiner Ost-West-Achse transloziert und obendrein um eine Säulentrommel erhöht. Angeblich fahren täglich 180.000 Autos über diesen Platz. Außerdem säumen Denkmäler von preußischen Feldherren wie Roon oder Moltke und natürlich der unvermeidliche Bismarck den Platz.
Meine Mutter, die versteckt im NS-Berlin überlebte, hat große Umwege in Kauf genommen, um nicht an diesem, wie sie es nannte, »scheußlichen« NS-Denkmal vorbeifahren zu müssen, und hat sich diebisch gefreut, dass die Berliner Schwulenbewegung schon in den 80er-Jahren – wohl wegen der Phallusähnlichkeit – die Siegessäule zu ihrem Symbol gemacht hat.
Wäre es nun »besser« gewesen, Lenin am Platz der Vereinten Nationen stehen zu lassen?
Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als Berlin nach seiner Vereinigung in den 90er-Jahren über aus der DDR-Zeit stammende Straßennamen und Denkmäler zu befinden hatte. War Herbert Baum ein Kommunist oder ein jüdischer Widerstandskämpfer? Sollen sein Denkmal und die nach ihm benannte Straße bleiben oder nicht? Das waren damals geführte Debatten in Kommissionen, in denen man seine Stimme einbringen konnte.
Diskurs Mag in den damit betrauten bezirklichen Gesprächskreisen nicht alles mit gleicher Sorgfalt behandelt worden sein – und natürlich ist sehr beklagenswert, dass es noch immer eine Treitschkestraße in Berlin gibt –, aber es war kein Bildersturm, sondern eher ein doch mit Pro und Contra ausgetragener Diskurs.
Als für das Kapitel »DDR« in der eingangs zitierten Ausstellung nach einem geeigneten Objekt gesucht wurde, war schnell das Lenin-Denkmal gefunden, freilich gab es dann noch eine jahrelange unter öffentlichem Pro und Contra geführte Debatte, schließlich wurde der Kopf der Skulptur, die in einem Wald vergraben war, geborgen und samt dem für die Demontage platzierten Schraubbolzen im Kopf ausgestellt.
Wäre es nun »besser« gewesen, Lenin am Platz der Vereinten Nationen stehen zu lassen? Meine Sympathie für Lenin hält sich in sehr engen Grenzen, aber die Beseitigung war kein Akt revolutionärer Garden oder Spontis, sondern nach öffentlicher Debatte durch das Bezirksparlament mit Mehrheit beschlossen. Aber gerade beim Rückbau oder der Translozierung eines Denkmals bleibt doch ein etwas schaler Nachgeschmack. Vielleicht würde bei manchem Denkmal eine erläuternde und auch distanzierende Kommentierung etwas im wahrsten Sinne des Wortes verbessern.
Fussnote Das Ensemble mit der Siegessäule könnte eine kommentierende Fußnote nicht entgiften, aber das bunte, freche Stadtmagazin »Siegessäule« bringt ein wenig Licht gegen den grauen, in Stein gehauenen NS-Gigantomanismus.
Also nicht abräumen, nicht beschmieren, sondern mit Erläuterungen kommentieren oder in neue Zusammenhänge bringen – das ist unser Weg vom Dunkel ins Dämmer, denn jede Generation kann nur etwas mehr Licht ins Dunkel der Geschichte bringen.
Der Autor ist Historiker, Publizist und Rabbiner in Berlin. Er ist Vorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz.