Auf den ersten Blick wirkt die Nachricht schockierend: 40 Prozent der Schüler und Schülerinnen, die älter als 14 Jahre sind, wissen nichts mit dem Namen und damit verbundenen Begriff »Auschwitz« zu verbinden. So die kürzlich veröffentlichten Ergebnisse einer Umfrage, die für die Körber-Stiftung erstellt wurde.
Rein fachlich gesehen stellt sich die Frage, ob und wann das hierzulande jemals anders war: gewiss nicht vor dem Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963. Ob und wie das später anders war, wissen wir nicht, da wir über keine repräsentativen Längsschnittstudien verfügen.
judenhass Auf jeden Fall ist angesichts jüngerer Entwicklungen, etwa eines auf deutschen Straßen erstmals während des Gaza-Krieges 2014 offen ausbrechenden Judenhasses eines kleinen, wenn auch lautstarken Teils migrantischer Jugendlicher, auf das Phänomen eines sich – zu Unrecht – auf den Islam berufenden Judenhasses einzugehen. Vor diesem Hintergrund muss es darum gehen, allen Schülerinnen und Schülern zu verdeutlichen, dass sie als künftige Bürgerinnen und Bürger zwar keine Schuld, wohl aber eine politische Verantwortung für Deutschlands Verbrechen an den europäischen Juden zu übernehmen haben.
Zu fragen ist daher, welche Möglichkeiten schulische und außerschulische Pädagogik hat, dem möglichen Antisemitismus junger Menschen – mögen sie nun aus Immigrantenfamilien stammen oder nicht – und antisemitischen Einstellungen entgegenzuwirken.
Dazu sind schon seit Längerem plausible Vorschläge unterbreitet worden: So versammelten sich vor mehr als 15 Jahren in Stockholm auf Einladung des schwedischen Staates Vertreter von 40 Staaten, um über humane Werte im globalen Zeitalter vor dem Hintergrund eines in vielen europäischen Ländern wiedererstarkten Rassismus zu diskutieren und dabei die allfälligen Lehren aus dem Holocaust zu ziehen.
verantwortung Die maßgeblich von dem israelischen Historiker Yehuda Bauer verfasste Abschlusserklärung des »Stockholm International Forum on the Holocaust« vom Jahresende 2000 stellt fest: Da die Menschheit immer noch an den Wunden des Völkermordes, der ethnischen Säuberung, des Rassismus und des Fremdenhasses leidet, teile die internationale Gemeinschaft die schwerwiegende Verantwortung, das Böse zu bekämpfen. »Wir sind«, so schließt dieses Dokument, »verpflichtet, uns der Opfer, die umgekommen sind, zu erinnern, die Überlebenden, die noch unter uns weilen, zu respektieren und das der Menschheit gemeinsame Streben nach gegenseitigem Verständnis und Gerechtigkeit zu betonen.«
Dabei kommen Begriff und Sache der »Würde des Menschen« eine zentrale Rolle zu. Die Würde eines jeden Menschen zu achten, bedeutet, ihn in mindestens drei Dimensionen nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch zu respektieren, das heißt, ihn oder sie in der Dimension körperlicher Integrität, personaler Identität und soziokultureller Zugehörigkeit zu achten.
Dieser Anerkennungsforderung korrespondiert ein Demütigungsverbot. Dieses Demütigungsverbot bezieht sich auf die »Würde«, das heißt, die Selbstachtung eines Menschen. Sie wird verletzt, wenn Menschen die Kontrolle über ihren Körper genommen wird, wenn sie als die Person, die sie sprechend und handelnd sind, nicht beachtet oder ernst genommen werden, beziehungsweise wenn die Gruppen oder sozialen Kontexte, denen sie entstammen, herabgesetzt oder verächtlich gemacht werden.
primo levi In dem kristallklaren und nüchternen Bericht des ehemaligen Auschwitzhäftlings Primo Levi über seine Lagerhaft – Ist das ein Mensch? – wird den Erfahrungen absoluter Entwürdigung Rechnung getragen. Der Ausdruck von der Würde des Menschen gewinnt vor der Kulisse von Auschwitz eine gebieterische und einleuchtende Kraft: »Mensch ist«, so notiert Primo Levi für den 26. Januar 1945, einen Tag vor der Befreiung des Lagers, »wer tötet, wer Unrecht zufügt oder erleidet; kein Mensch ist, wer jede Zurückhaltung verloren hat und sein Bett mit einem Leichnam teilt. Und wer darauf gewartet hat, bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter entfernt als der roheste Pygmäe und der grausamste Sadist.«
Wenn also die Würde des Menschen am Beispiel ihrer massivsten Verletzung in den deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern demonstriert wird, kommt es in weiteren Schritten darauf an, Schülerinnen und Schüler mit der Frage zu konfrontieren, wie es dazu kommen konnte, dass sich Menschen derart an anderen vergreifen konnten.
In diesem Zusammenhang ist es dann unerlässlich, sich mit der biografischen Entwicklung sowie den zeitbedingten Umständen vertraut zu machen, unter denen Menschen zu Täterinnen und Tätern werden konnten – ohne dabei in eine apologetische Haltung zu verfallen. Bezüglich der politischen und moralischen Konsequenzen wird es darüber hinaus darauf ankommen, festzuhalten, dass es – jedenfalls was Schülerinnen und Schüler angeht – nicht um die Zuschreibung von Schuld, sondern ausschließlich um die Bereitschaft zur Übernahme staatsbürgerlicher Verantwortung geht.
Der Autor ist Publizist und Erziehungswissenschaftler in Berlin.