Herr Knopp, das Projekt »Gedächtnis der Nation« (GdN) hat sich Steven Spielbergs »Shoa Foundation« zum Vorbild genommen. Warum das?
Weil die Shoa Foundation wirklich das große Zeitzeugenprojekt weltweit gewesen ist. Ich erinnere mich noch, wie Steven Spielberg das in der Öffentlichkeit verkündet hat und wie er zu Recht mit Stolz berichten konnte, dass er seine Förderer binnen weniger Wochen zusammen hatte. Das waren Coca-Cola, American Express und die üblichen Verdächtigen der großen amerikanischen Firmen. Wir hatten es schwerer. Das war ein interessanter Prozess. Hans-Ulrich Jörges und ich haben fünf Jahre gebraucht, um unsere Förderer zusammenzukriegen. Offenbar war das Interesse in Amerika für dieses internationale Projekt doch größer als in Deutschland. Aber ich bin heilfroh, dass es gelungen und das »Gedächtnis der Nation« nun gestartet ist.
Warum ist ein solches Projekt wichtig?
Die persönliche Erinnerung kann den analytischen Prozess von Geschichte ergänzen. Das sind zwei Seiten einer Medaille. Ich sage es gern auf Englisch: »History is cold, Memory is warm«. Beides ist wie Yin und Yang: Geschichte ist Yin und Erinnerung Yang. Beides ergänzt sich und gibt das ganze Bild. Die Erinnerung von Zeitzeugen darf nicht separat betrachtet werden. Sie muss in einen historischen Zusammenhang gestellt werden. Aber wenn die Geschichte in das Leben von Menschen eingreift, dann haben sie etwas zu erzählen. Und das gehört zum kollektiven Gedächtnis der Nation dazu. Dieses Gedächtnis besteht aus ganz vielen Facetten. Es ist pluralistisch, nicht einheitlich. Und da sind ganz viele Erinnerungen notwendig, die wollen wir einholen. Wir haben nur einen Jahrhundertbus bislang. Da kann man nicht viel machen. Aber wenn wir nicht nur die bisherigen Partner haben, sondern in Zukunft noch weitere, dann hat man größere Chancen.
Das GdN ist frei zugänglich und soll auch eine Ergänzung zum Geschichtsunterricht in Schulen sein. Wie finden Sie die Vermittlung der Schoa in der Schule?
Ich kann das nur aus Sekundärquellen berichten. Meine Kinder sind 17 und 16, die werden das Thema erst in der nächsten Klasse behandeln. Wir haben aber enge Verbindung mit dem deutschen Geschichtslehrerverband, der bei uns auch im Gremium sitzt. Ich weiß, dass Geschichtslehrer großes Interesse haben, gerade diesen Bereich der Geschichte den Kindern und jungen Leuten plastischer und direkter zu vermitteln. Sie nutzen auch seit langem Filme, das weiß ich. Im Programm des ZDF gab es ja eine große Holocaust-Serie, die an den Schulen vielfach eingesetzt wird. Die Zeitzeugenaussagen werden in ganzer Länge verwendet, denn in den Dokumentationen sind die Aussagen mit 30 Sekunden relativ kurz. In den Filmen beim GdN haben Sie Aussagen von sieben oder acht Minuten Länge: Das bietet eine ganz andere Möglichkeit, sich auf den Menschen einzulassen.
Wie sah denn der Geschichtsunterricht zu Ihrer Schulzeit aus?
Ich hatte in meiner Jugend Geschichtsstunden, die sich völlig von denen meiner Altersgenossen unterschieden. Frontalunterricht, Auswendiglernen von Zahlen und Fakten, das hatte ich nicht. Mein Geschichtslehrer hat schon damals, in den 60er-Jahren, Filme eingesetzt. Er hatte Schallplatten und Tonbänder – die Medien der damaligen Zeit. Und das war eine so direkte Vermittlung von Wissen, die meinen sowieso schon vorhandenen Wunsch, einmal Geschichte zu studieren, ganz wesentlich bestärkt hat.
In der vergangenen Woche haben Brandenburger Schüler im Rahmen eines Projektes mit dem Jüdischen Museum Berlin einige Mitarbeiter verbal angegriffen und in der Pause der Veranstaltung, bei der über jüdisches Leben nach 1945 diskutiert wurde, gesagt: »Euch hätte man früher vergast.« Hat denn der Geschichtsunterricht versagt, wenn nach allen Anstrengungen dann doch noch solche Sätze fallen?
Das ist wirklich schrecklich. Ich glaube dennoch, dass der Unterricht nicht generell versagt. Aber wir wissen alle, dass in einigen ostdeutschen Ländern ein Bodensatz von Rechtsradikalismus vorhanden ist. Weil die neuen Länder nicht den langen Prozess der Lehre, der kollektiven Zurkenntnisnahme durchgemacht haben, wie es in den alten Bundesländern der Fall gewesen war. Sie sind 1990 unvermittelt in das vereinte Deutschland gestürzt. Die SED-Herrschaft hat den vorhandenen Rechtsradikalismus negiert, so etwas gab es ja offiziell nicht im ersten Arbeiter- und Bauernstaat. Aber er war und ist nach wie vor da. Daran muss man arbeiten durch Bildung. Aber Gott sei Dank ist es nur eine kleine radikale Minderheit, nicht die Mehrheit.
Arbeiten Sie beim GdN auch mit israelischen Projekten zusammen?
Noch nicht. Aber wir wollen letztlich auch mit Yad Vashem kooperieren. Wir haben mit der Shoa Foundation gemeinsame Portale im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Wir fangen ja gerade erst an.
Warum gibt es dieses Projekt noch nicht auf Englisch, sodass es auch Menschen, die kein Deutsch sprechen, ansehen können?
Wir machen mit der Shoa Foundation so etwas Ähnliches wie Yin und Yang. Die Shoa Foundation ist global, aber es ist ein Thema – der Holocaust. Wir wollen daneben eine Vielzahl von Themen stellen, die sich aber alle auf die deutsche Geschichte beziehen. Wir sind gut beraten, wenn wir uns beschränken, denn leider haben wir nicht so viel Geld wie die Shoa Foundation. Deshalb müssen wir mit unseren Mitteln haushalten und konzentrieren uns auf deutsche Zeitzeugen und Sprache. Ich bin sehr gespannt, ob es Google gelingt, diese Erinnerungen technisch so aufzubereiten, dass sie automatisch übersetzt werden. Da muss man sehr vorsichtig sein, gerade, wenn es um derart sensible Themen wie den Holocaust geht. Ich würde da vorsichtig sein und vorher lieber nochmal genau hinsehen. Aber der übernächste Schritt wird sein, das international zur Kenntnis zu geben.
Das Gespräch führten Katrin Richter und Sarah Gabriel-Pollatschek.
Zum Artikel »Geschichte 2.0« über das Projekt »Gedächtnis der Nation« prelive.juedische-allgemeine.de/article/view/id/11402