Neuerliche Hiobsbotschaft für Israel aus Den Haag: Nachdem am Montag der Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), Karim Khan, bekanntgegeben hatte, gegen Premier Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit Haftbefehle erwirken zu wollen, gab am Freitag der - vom IStGH unabhängige - Internationale Gerichtshof (IGH) seinen mit Spannung erwarteten Beschluss zu einem Antrag Südafrikas auf Erlass weiterer einstweiliger Anordnungen gegen Israel bekannt.
Südafrika hatte Israel vor dem höchsten UN-Gericht wegen angeblicher Verletzung der Völkermord-Konvention von 1948 verklagt. Das Hauptverfahren hat noch nicht begonnen, es dürfte frühestens im kommenden Jahr abgeschlossen werden.
Doch bereits im Januar, im Februar und im März hatte der IGH sich im Verfahren der einstweiligen Anordnung mit dem Fall befasst und mehrere Beschlüsse gefasst, in denen Israel aufgefordert wurde, sein Vorgehen in Gaza in Reaktion auf die Massaker vom 7. Oktober anzupassen, um das Leid der Zivilbevölkerung und das Risiko zu verringern.
Doch am Montag vergangener Woche beantragte Südafrika erneut, der IGH möge wegen der sich dramatisch verschlechternden humanitären Situation in Gaza ein Ende der israelischen Militäroperation anordnen.
Dem gaben die Richter am Freitag bei nur zwei Gegenstimmen (eine kam vom israelischen Richter Aharon Barak) im Wesentlichen statt. Sie folgten damit dem Argument Südafrikas, dass sich die Lage seit der letzten Verhandlung in Den Haag erneut verschlechtert habe.
Der Gerichtshof bestätigte nicht nur die bereits erlassenen Auflagen an Israel, sondern verschärfte sie dahingehend, dass das israelische Militär nun aufgefordert wurde, die Offensive in Rafah, im Süden des Gazastreifens, umgehend einzustellen. Außerdem soll Israel den Grenzübergang Rafah wieder für Hilfslieferungen öffnen. Und, auch das machten die Richter unmissverständlich deutlich, es muss mit von den Vereinten Nationen beauftragten Untersuchungskommissionen kooperieren, die einen möglichen Genozid in Gaza untersuchen.
Auch wenn der Beschluss klarmachte, dass dies keine Evaluierung der Umsetzung bisheriger Anordnungen sei, konnte man zwischen den Zeilen die Frustration der meisten Richter deutlich herauslesen. So heißt es in dem Beschluss: »Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass die genannten Entwicklungen, die außergewöhnlich schwerwiegend sind, insbesondere die Militäroffensive in Rafah und die sich daraus ergebende wiederholte großflächige Vertreibung der ohnehin schon extrem gefährdeten palästinensischen Bevölkerung im Gaza-Streifen, eine Veränderung der Situation im Sinne von Artikel 76 der Verfahrensordnung darstellen.«
So war es folgerichtig, dass der IGH die »sofortige Einstellung der Militäroffensive und aller anderen Maßnahmen im Gouvernement Rafah, die der palästinensischen Gruppe im Gazastreifen Lebensbedingungen auferlegen könnten, die die zu ihrer vollständigen oder teilweisen physischen Zerstörung führen könnten«, verlangte.
Außerdem muss Israel dem Gerichtshof binnen 30 Tagen Bericht erstatten über alle Maßnahmen, die es zur Umsetzung der heutigen Order und früherer Anordnungen getroffen hat. Zwei der 17 Richter nahmen nicht an den Beratungen teil. Die ugandische Vizepräsidentin des Gerichts, Julia Sebutinde, fügte eine abweichende Meinung an.
Dennoch wurde in der von Gerichtspräsident Nawaf Salam (einem ehemaligen libanesischen UN-Botschafter) vorgetragenen Begründung der neuerlichen Anordnung deutlich, dass die übergroße Mehrheit der Richter den von Israel vorgetragenen Gegenargumenten keinen Glauben schenkt.
Die humanitäre Lage der Menschen im Gazastreifen, so Salam, sei »katastrophal« und habe sich seit dem 28. März, dem Zeitpunkt der letzten Anordnung des Gerichts, weiter verschlechtert. Eine große Mehrheit der Bewohner des Küstenstreifens sei aus ihren Häusern vertreiben.
Das gelte insbesondere für Rafah. Die Entwicklungen im Gazastreifen seien »außergewöhnlich gravierend«, was in erster Linie an der andauernden israelischen Militäroperation liege, so das Gericht. Es bestehe daher die Gefahr, dass der palästinensischen Bevölkerung bis zu einem Entscheid der Klage im Hauptverfahren ein »irreparabler Schaden« entstehen könne, wenn keine einstweiligen Maßnahmen erlassen würden.
Unter Berufung auf die Einschätzung von UNRWA-Chef Philippe Lazzarini erklärte der Gerichtshof, man sei nicht davon überzeugt, dass Israels Evakuierungsbemühungen in Rafah bislang hinreichend seien. So habe die israelische Armee die Menschen nicht umfassend informiert, in welche sicheren Zonen sie fliehen können, um bei den Kampfhandlungen in Rafah nicht zu Schaden zu kommen.
Es bestehe, so der IGH, nicht nur Dringlichkeit, sondern »eine reale und unmittelbare Gefahr, dass das Recht der Palästinenser, vor einem möglichen Völkermord geschützt zu werden, verletzt werden könnte, bevor das Gericht ein endgültiges Urteil fällen könne.
Die Entwicklung im Gazastreifen seien so außergewöhnlich und schwerwiegend, dass der Erlass neuer einstweiliger Maßnahmen gerechtfertigt sei. Einige der »immensen Risiken«, mit denen der israelische Angriff auf Rafah verbunden sei, seien bereits eingetreten, erklärten die Richter. Der Gerichtshof sei »nicht überzeugt«, dass die von Israel bislang ergriffenen Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der vertriebenen Zivilbevölkerung ausreichend seien. Deswegen sei eine Abänderung der vom Gerichtshof gemachten Anordnungen vom 26. Januar und 28. März 2024 angezeigt.
Darin hatten die Richter auch die sofortige Freilassung der von der Hamas am 7. Oktober 2023 verschleppten israelischen Geiseln verlangt. Diese Forderung bekräftigten sie am Freitag erneut: »Tief besorgt« sei man über das Schicksal der Geiseln: »Der Gerichtshof ist zutiefst beunruhigt darüber, dass sich viele dieser Geiseln noch immer in Gefangenschaft befinden, und bekräftigt seine Forderung nach ihrer sofortigen und bedingungslosen Freilassung.«
Die einstweiligen Anordnungen des IGH im laufenden Verfahren sind für Israel bindend. Ein Mittel zu ihrer Durchsetzung hat das Gericht selbst aber nicht. Sollte sich die Regierung in Jerusalem jedoch darüber hinwegsetzen, könnte das Israels Erfolgaussichten im Hauptsacheverfahren schmälern. Denn die überwältigende Mehrheit der Richter - das zeigte die erneute Order - ist von den Argumenten Israels bislang wenig angetan.
Richterin Sebutinde schrieb in ihrer abweichenden Meinung, die Verantwortung für das Leiden der Palästinenser in Gaza liege ausdrücklich nicht bei Israel. Israel habe es auch nicht versäumt, das Leiden der Menschen in Gaza zu lindern, sondern entsprechende Maßnahmen ergriffen.
Der beigeordnete Richter Aharon Barak, ein ehemaliger Präsident des Obersten Gerichtshofs Israels, erklärte, dass die Militäroperation im Gazastreifen ohne die existenzielle Bedrohung Israels durch die Hamas nicht zu verstehen sei und gar nicht erst durchgeführt werden müsste. Rafah seit Jahren eine Hochburg der Hamas. Um die Geiseln zu befreien und die anhaltenden Angriffe der Hamas auf Israel zu beenden, müsse Israel seine Operation in Rafah durchführen können.
Auch andere Richter gaben abweichende Meinungen zu Protokoll, stimmten aber mit der Gerichtsmehrheit. So schrieb der deutsche Richter Georg Nolte, die »außerordentlich dramatische humanitäre Situation in und um Rafah« rechtfertige zwar eine »Präzisierung der bestehenden Maßnahmen vom 26. Januar und 28. März 2024«. Es sei aber nicht erforderlich, dass diese Militäroperation »mit völkermörderischer Absicht« durchgeführt werde.
Nolte zeigte sich auch nicht überzeugt, dass die dem Gericht vorgelegten Beweise zum jetzigen Zeitpunkt plausible Hinweise darauf geben würden, dass Israels Militäroperation mit völkermörderischer Absicht durchgeführt werde.
Aharon Barak, der als Ad-hoc-Richter nur bei diesem Verfahren auf der Richterbank im Haager Friedenspalast sitzt, hatte auch noch eine Warnung für seine Kollegen parat. Der IGH, schrieb Barak, dürfe sich trotz des großen öffentlichen Drucks nicht durch politische, militärische oder öffentliche Probleme ablenken lassen. Er müsse nur rechtliche Fragen in Betracht ziehen und nicht die öffentliche Meinung, warnte der 87-Jährige.
Ob auf Barak gehört werden wird, ist jedoch nach dem heutigen Beschluss mehr als fraglich. Der »Krieg der Worte« ging jedenfalls kurz nach Verkündung des Beschlusses weiter. Während die Hamas und Südafrika jubelten, reagierte Israels Regierung mit Empörung und Abscheu auf die Anordnung des Gerichtshofs.
»Israel hat und wird keine militärischen Operationen in der Region Rafah durchführen, die Bedingungen schaffen, die zur Zerstörung der palästinensischen Zivilbevölkerung im Ganzen oder in Teilen führen könnten«, verlautete Außenministerium und Nationaler Sicherheitsrat am Abend. Man werde die Bemühungen fortsetzen, damit humanitäre Hilfe in den Gazastreifen kommen und Schaden für die Zivilbevölkerung so weit wie möglich abgewendet werden könne, so die Erklärung.