Seit Oktober steht ein inzwischen 101 Jahre alter Mann vor dem Landgericht Neuruppin als Angeklagter: Josef S. wird Beihilfe zum Mord an mehr als 3500 Menschen im Konzentrationslager Sachsenhausen vorgeworfen. Der Mann soll dort zwischen 1941 und 1945 als SS-Wachmann im Einsatz gewesen sein. Bislang streitet er dies ab.
Am Donnerstag geht der Prozess weiter. Rechtsanwalt Thomas Walther vertritt Holocaust-Opfer und deren Nachfahren als Nebenkläger. Der 78-Jährige hat zuvor als Richter gearbeitet und war Chefermittler der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen. Wir sprachen mit ihm über die Verfahren gegen NS-Täter.
Herr Walther, welche Bedeutung hat im Jahr 2021 - 76 Jahre nach Ende des Holocaust - die Anklage gegen einen 101-jährigen ehemaligen KZ-Wachmann?
Für die Zukunft heißt das: Wer sich an Verbrechen beteiligt, kann niemals sicher vor Verfolgung sein. Auch wenn Staatsunrecht geschieht, gibt es Orte und Taten, an denen sich niemand beteiligen sollte. Auschwitz steht als Metapher für diese Orte und für diese Taten. Die Justiz hat in den vergangenen 30 Jahren überwiegend geschlafen. Die Bedeutung dieses Verfahrens liegt in der Erkenntnis, dass die Besinnung auf den Weg von Recht und Gerechtigkeit in einem demokratisch orientierten Staat jederzeit möglich ist. Unser Staat und unsere Justiz funktionieren, weil die Besinnung ab 2008 möglich wurde. Damals erhob die Staatsanwaltschaft München Anklage gegen John Demjanjuk, ein früheres Mitglied der SS-Hilfstruppen im Konzentrationslager Sobibor, wegen Beihilfe zum Mord. Für die Gegenwart ist das Verfahren gegen Josef S. ein Zeichen dafür, dass ein Angeklagter unabhängig vom Alter in hohem Maße verhandlungsfähig sein kann. Wir führen diesen Prozess unter strenger Beachtung aller Grundsätze eines Justizverfahrens.
Sie vertreten in dem Prozess Nebenkläger, darunter Holocaust-Überlebende und Nachkommen von Opfern. Welche Bedeutung hat dieses Verfahren für diese Betroffenen?
Das Verfahren zeigt, dass die Opfer von Massenverbrechen und ihre Angehörigen auch noch nach Jahrzehnten auf Gerechtigkeit hoffen können. Gerechtigkeit kommt aus Sicht der Opfer nie zu spät. Das Verfahren bedeutet die Chance, nach Jahrzehnten des Schweigens vor einem deutschen Gericht über das eigene Leiden sprechen zu können. Und sie werden sehr aufmerksam vom Gericht angehört. Jeder, der aufmerksam hinhört, spürt sehr wohl die Zeitlosigkeit von Schmerz und Trauer und der am eigenen Leib erfahrenen Torturen. Die Schaffung einer so späten Gerechtigkeit - ganz unabhängig von einer eventuellen Strafe für den Angeklagten - schafft in den Überlebenden ein Stück Frieden. Das Reflektieren der Ereignisse in Sachsenhausen bringt Vieles an die Oberfläche, was schon begraben schien. Aber nur dadurch wird das Weg-Geschwiegene zu einer Befreiung. Die Opfer sind nicht mehr allein. Das Gericht nimmt sich der Menschen und der an ihnen begangenen Verbrechen an.
Jahrzehntelang hat die deutsche Justiz als Voraussetzung für eine Verurteilung wegen Beteiligung am Holocaust den Beweis einer konkreten Tatbeteiligung gefordert. Seit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) 2016 zum sogenannten »Buchhalter von Auschwitz«, Oskar Gröning, genügt es für eine Verurteilung, Teil der Vernichtungsmaschinerie eines NS-Konzentrationslagers gewesen zu sein. Was kann die strafrechtliche Aufarbeitung des Holocaust noch leisten?
Jene »konkrete« Tatbeteiligung ist nicht das, was das Gesetz verlangt. Ausdrücklich ist jede Unterstützung einer Haupttat eine »Beihilfe«. Diese Unterstützung kann auf unterschiedlichste Art und Weise geleistet werden. Die Entscheidung von 2016 bestätigt, was ich 2008 bereits in den Schlussbericht im Fall Demjanjuk ausgeführt hatte. Teil der Maschinerie zu sein, genügte bei allen anderen Delikten seit einer Ewigkeit, nur nicht bei NS-Verbrechen. Wer etwa Teil der Bankräuber-Bande ist und das Fluchtauto »tuned« oder wer »pfeift, wenn die Bullen kommen«, unterstützt die Haupttat. Im Fall »Nine-Eleven« - bei den Anschlägen am 11. September 2001 auf das New Yorker World Trade Center - hatte der BGH 2006 keinen Zweifel, die Verurteilung von Mounir al-Motassadeq zu bestätigen. Motassadeq war Teil der Maschinerie im fernen Hamburg, als er den Piloten Mohammed Atta mit einigen tausend Mark für die Flugschule unterstütze. Er bekam die Höchststrafe für Beihilfe zum Mord: 15 Jahre.
Sie waren nach Ihrer Zeit als Richter Chefermittler der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen. Jetzt vertreten Sie in Prozessen immer wieder Holocaust-Opfer vor Gericht. Was hat die Beschäftigung mit den Täterakten, mit Tätern und Opfern, mit Ihnen persönlich gemacht?
Ich habe gelernt, dass die Besinnung auf das Basiswissen, wie es ein Student im zweiten Semester im Strafrecht lernt, auf wundersame Weise in dem Bereich der NS-Verbrechen verloren ging. Ich bin zufrieden, dass mit konsequenter Arbeit dieses Basiswissen wieder zum Leben erweckt werden konnte. Ich bin davon überzeugt, das Richtige zur richtigen Zeit getan zu haben. Das vielfältige Echo in den Überlebenden und in den Familien der Opfer gibt mir vieltausendfach recht. Diese Generationen der »Vergessenen und Verdrängten« hat hörbar aufgeatmet. Sie haben ein Stück Frieden gewonnen. Die spät entdeckten Täter haben nichts vergessen. Manche Details mögen sie verdrängt haben. Ich bin aber überzeugt, dass sie noch sehr genau wissen, woran sie beteiligt waren. Den Mut zur eigenen Offenheit und zu einem Stück eigenen Frieden hat niemand wirklich gefunden. Zuweilen habe ich gespürt, dass der eine oder andere etwas dem »Sich-Bekennen« näher kam. Den letzten Schritt schaffte aber bisher niemand.