Das liberale Judentum in Deutschland steht auf den Schultern von Giganten. Leo Baeck, Regina Jonas und Henry Brandt sind Namen, die jeder Jude kennen sollte – und denen das Judentum insgesamt unbeschreiblich viel zu verdanken hat.
Seit einiger Zeit jedoch befindet sich die liberale Strömung in einer existenziellen Krise. Der Grund ist unauflöslich mit einer einzigen Person verwoben: Walter Homolka.
Gegen den Gründer des Abraham Geiger Kollegs (AGK) sind seit Jahren Vorwürfe im Umlauf, von denen jeder, der es wissen wollte, Kenntnis hatte. Doch zu keinem Zeitpunkt hatte es ein Student, Angestellter oder Professorenkollege aufgrund der Machtfülle von Homolka, der zahlreichen jüdischen Organisationen vorsteht, gewagt, an die Öffentlichkeit zu gehen. Zu weitreichend, so heißt es bei den Betroffenen, wären die Konsequenzen gewesen.
Der Bericht der Untersuchungskommission liest sich vernichtend.
Doch dann begann das System Homolka Risse zu bekommen. Im Mai dieses Jahres wandte sich zunächst nur ein Betroffener an die Öffentlichkeit – dann wurden es immer mehr. Bei den vom Zentralrat der Juden in Deutschland in Auftrag gegebenen Ermittlungen haben bislang rund 80 Personen über Walter Homolka ausgesagt. Weitere Aussagen sind geplant. Der Bericht wird für den anstehenden Jahreswechsel erwartet.
Schon jetzt aber haben sich die Vorwürfe auch offiziell erhärtet. Eine Untersuchungskommission der Universität Potsdam hat vergangene Woche ihren Bericht vorgestellt. Dieser liest sich vernichtend. Homolka hat sich laut Universität schuldig gemacht: des Machtmissbrauchs, der problematischen Ämterhäufung, der Schaffung schwieriger Studien- und Arbeitsverhältnisse, durch unlautere Karriereeingriffe und durch das Herbeiführen eines Klimas der Angst.
Homolka nicht nachweisen konnte die Untersuchungskommission indes die Duldung sexualisierter Belästigung, die von dessen Ehemann, der zudem am AGK beschäftigt war, ausgegangen sein soll. Homolka will von all dem nichts gewusst haben. Hierzu sei gesagt: Der Autor dieser Zeilen erhielt vor acht Jahren als Jungredakteur von Homolkas Mann eine Nachricht mit dem Angebot, über eine Tagung des AGK zu berichten. In seinem Hotel-Doppelbett sei im Übrigen noch ein Platz frei.
Homolka spielt auf Zeit. Er sieht sich als Opfer, spricht sogar von einer Rufmord-Kampagne.
Im Vergleich zu den Vorwürfen einiger Studenten des AGK liest sich dies weniger schlimm. Doch war auch dies eine krasse Grenzüberschreitung – zweifellos. Persönlich gekannt habe ich Homolkas Ehemann zu diesem Zeitpunkt wohlgemerkt nicht. Wie sicher musste er sich an dem von seinem Mann geleiteten Institut gefühlt haben, um einem Fremden solch ein Angebot zu unterbreiten?
»Auf das Verhalten mir nahestehender Menschen habe ich jedoch keinen Einfluss und möchte ihn auch nicht haben«, verteidigt sich indes Homolka. Ob die Aussage plausibel ist, mag jeder selbst bewerten.
Nach Vorstellung des Universitätsberichts hat Homolka alle Vorwürfe gegen seine Person weiter abgestritten. Er spielt auf Zeit. Er sieht sich als Opfer, spricht sogar von einer Rufmord-Kampagne. In der ZEIT sagte er vergangene Woche: »Ich bin kein Vertuscher und kein Belästiger«, auch wenn die Strukturen des AGK »vielleicht nicht ideal« gewesen seien. Er wertet das Ergebnis der Untersuchungskommission wider jede Vernunft als Quasi-Freispruch.
Der moralische, ethische und menschliche Schaden, den Rabbiner Walter Homolka angerichtet hat, ist immens.
Doch selbst, wenn es dabei bleiben sollte: Der moralische, ethische und menschliche Schaden, den Rabbiner Walter Homolka angerichtet hat, ist immens. Immer mehr Institutionen des liberalen jüdischen Lebens wenden sich von ihm ab. Ein tiefer Riss geht etwa durch die Union progressiver Juden (UpJ) und durch das jüdische Studienwerk ELES. Etliche UpJ-Mitglieder fordern, dass Homolka von seinen zahlreichen Führungsämtern zurücktritt. Der ELES-Beirat distanzierte sich nach Bekanntwerden des Kommissionsberichts von Homolka. Er sprach zudem die Empfehlung aus, ihn nicht mehr in sein Amt zurückkehren zu lassen.
Und es zeigen sich weitere Auflösungserscheinungen. Jonathan Schorsch ist Professor an der »Jewish School of Theology« und hat mit Studenten eine Initiative unterschrieben, dass Homolka wegen des Machtmissbrauchs als Professor dort zurücktreten muss. Er findet es »empörend, dass diese korrupte [im Sinne von moralisch verwerflich; Anm. der Redaktion], eigennützige, böswillige und reuelose Person darauf besteht, dass sie qualifiziert ist, in der jüdischen Gemeinschaft zu lehren oder etwas zu leiten«.
»Eine Institution, die Rabbinerinnen und Rabbiner ausbildet, muss höchste ethische Standards vorleben.«
Heute distanzierte sich der liberale Rabbinerverband European Rabbinical Assembly von Homolka: »Eine Institution, die Rabbinerinnen und Rabbiner ausbildet, muss höchste ethische Standards vorleben, und wir sind der Auffassung, dass der bestätigte Machtmissbrauch in Form seiner strukturellen Ausgestaltung zeigt, dass die derzeitige Leitung nicht geeignet ist, diese Probleme anzugehen.«
Trotz aller berechtigten Kritik steht fest: Homolka hat viel aufgebaut, viel geschaffen, gerade an Stellen, wo die traditionellen jüdischen Institutionen vor 20 Jahren Leerstellen entstehen ließen. Soll dieses Lebenswerk indes nicht weiter Schaden nehmen, oder besser: nicht zerbrechen, braucht es die Einsicht, dass zu viel Vertrauen zerstört wurde, als dass eine Rückkehr Homolkas in seine vielen, zurzeit ruhenden Ämter eine Option wäre. Die ihm unterstehenden jüdischen Organisationen müssen zudem zwingend in die Hände der Religionsgemeinschaft überführt werden.
Alles andere würde eine weitere tiefgreifende Schwächung des eigentlich doch so stolzen und lebendigen liberalen jüdischen Lebens in Deutschland bedeuten.
engel@juedische-allgemeine.de