Anmerkung der Redaktion (2. August 2023):
Als dieser Text von Fabian Wolff in der Jüdischen Allgemeinen erschien, glaubte die Redaktion Wolffs Auskunft, er sei Jude. Inzwischen hat sich Wolffs Behauptung als unwahr herausgestellt.
Vor vier Jahren schrieb ich für diese Zeitung einen Text, einen dieser »Wie geht es eigentlich jungen Juden in Deutschland?«-Artikel. Ich versuchte, ein Lebensgefühl zwischen Genervtheit, Frustration und Sehnsucht zu beschreiben. Diesen Text zog ich an der Grußformel »Sha Sha« auf – kurz für Schabbat Schalom – das ich als den Erkennungscode für diese junge Generation beschrieb, der ihre ironisch-ernste Haltung zum Judentum symbolisieren sollte. Tatsächlich gab es damals nicht mehr als ein halbes Dutzend Leute (noch nicht mal alle jüdisch), die davon wussten. Inzwischen, so erfahre ich, hat sich »Sha Sha« tatsächlich als Gruß etabliert.
weggang Ein Wort tauchte in dem Text damals nicht auf: Angst. Es waren schöne Zeiten. Einfach nur unschuldig »genervt« zu sein, das wirkt heute fast wie ein Privileg.
Dann kam zuerst das Attentat in Toulouse im März 2012 und das große, ganz und gar nicht betroffene Schweigen in Europa. Einen Monat später, im April, veröffentlichte Günter Grass sein Anti-Israel-Gedicht. Plötzlich trauten sich die ganzen »Man wird wohl noch sagen dürfen«-Sager aus den hintersten Ecken, nicht an den Stammtisch, sondern ins Feuilleton. Und zwei Monate später, im Juni, begann die Beschneidungsdebatte.
Nein, 2012 war nicht der Beginn einer neuen Judenverfolgung (nicht in Deutschland jedenfalls – Frankreich ist eine andere Geschichte), aber trotzdem war die Angst da.
»Weg von hier« war schon damals für einige die einzige logische Konsequenz aus der Situation. Einer aus der Sha-Sha-Urgruppe lebt inzwischen in Amerika als Arzt in einem Krankenhaus an der Ostküste und ist ansonsten ziemlich durchgedreht: ein rechtsradikaler und rassistischer Waffenfreak, dessen Lösung für die globalen Probleme darin besteht, fünf Sechstel der Weltbevölkerung umzubringen. Wir reden nicht mehr viel miteinander.
Eine andere hat tatsächlich Alija gemacht, lernt fleißig Hebräisch und ist stolz auf das »Wir«, wenn sie über Israel spricht. Im November 2012, während der Operation Wolkensäule, hatte sie große Angst, dass ihr Freund in den Gazastreifen geschickt würde. Sie berichtete von Raketeneinschlägen und Bunkernächten. Via Facebook war ich an ihrer Seite.
Doch die beiden waren Ausnahmen. Zum Abschied aus Deutschland konnten sich nicht viele entschließen. Die Familien der einen, die seit den Nachkriegsjahren hier leben, hatten zu hart dafür gearbeitet, sich dem Land in irgendeiner Form zugehörig zu fühlen, und konnten sich auch noch an die Zeiten erinnern, als sowohl das Schweigen als auch der nachtröpfelnde Antisemitismus weitaus erdrückender waren.
Und den russischen Juden, die langsam die deutschen Juden wurden, lag zu viel daran, »die Zukunft« zu sein, die Renaissance. Man blieb also und arrangierte sich mit der Angst. Auf keinen Fall, darin waren sich beide Gruppen einig, konnte Israel die ganze jüdische Identität ausmachen. Distanz, Dissens, einfach nur Diskurs mussten weiterhin möglich sein. Man wollte sich sein Judentum von niemandem fremdbestimmen lassen, egal von welcher Seite.
parallelwelt Außerdem gibt es noch einen zweiten Weg aus Deutschland heraus. Man tut einfach so, als lebe man nicht hier. Das Judentum, das man sich wünscht, kennt man sowieso eher aus amerikanischen TV-Serien und Filmen als aus der eigenen Kindheit oder gar der »eigenen« Synagoge.
Wenn man schon nicht in die USA ziehen kann, weil das Geld, die Greencard oder die Courage fehlt, dann simuliert man Amerika in Berlin, unterhält sich ständig über Feinheiten der amerikanischen Kultur und Politik. Ich habe Freunde, die in Deutschland geboren sind oder wenigstens schon 20 Jahre hier leben, mit denen ich seit Jahren kaum mehr ein Wort Deutsch gesprochen habe.
Das mag man für Eskapismus halten, oder Pose, aber es ist real. Es verändert erst die Sprache, dann das Bewusstsein, dann das Sozialleben. Letztes Weihnachten war einsam für mich, nicht wegen der üblichen »Jew on Christmas«-Melancholie, sondern weil alle meine amerikanisch-jüdischen Expat-Freunde, mit denen ich diese Melancholie hätte teilen können, über die Feiertage nach Hause geflogen waren.
Wie Maxim aus New York, der in Berlin gerade seine Abschlussarbeit an der Uni über den antisemitischen Historiker Heinrich von Treitschke schreibt, den Erfinder des Mottos »Die Juden sind unser Unglück«. Wenn Maxim in Deutschland über jüdische Themen spricht, sagt er, fühle er sich »auf eine Weise unwohl, die ich aus den USA nicht kenne«. Mir geht es ähnlich, nur dass ich, anders als Maxim, kein Rückflugticket in die USA in der Tasche habe.
Doch virtuell lebe ich längst mehr in Amerika als hier. Die meisten jüdischen Kontakte habe ich inzwischen per Facebook in den USA. »Den Juden in Europa geht es schlecht« ist unter ihnen fast schon ein Meme. Die Verkündungen eines »neuen jüdischen Lebens in Deutschland« sind entweder überhaupt erst gar nicht bis zu ihnen gedrungen, oder sie konnten schon länger den trejfen Braten über den Ozean hinweg riechen. »We’re definitely thinking about you guys, is there anything we can do?«, schrieb mir meine Freundin Shoshana aus New Jersey besorgt im Sommer 2014.
zäsur Durchaus möglich, dass der Sommer 2014 eine Zäsur darstellt. Passiert war damals vielleicht gar nicht so viel – diese paar »Juden ins Gas«-Rufe auf pro-palästinensischen Demonstrationen, abermals das merkwürdige Schweigen der Deutschen und diese zwei arabischen Jugendlichen, die in Wuppertal eine Synagoge anzünden wollten.
Aber es fühlte sich nach mehr an, weil es mehr war. Vor dem Sommer 2014 wollte ich die Formel »Antizionismus ist der neue Antisemitismus« nicht schlucken. Aber von all denen, die nicht mit dem Tod von Gilad, Naftali und Eyal, sondern mit dem Beginn von »Operation Protective Edge« ihren inneren Nahostexperten entdeckten, war so absolut gar nichts zum plötzlich heftig auflodernden Antisemitismus zu hören. Dabei hätte allein politische Taktik geboten, sich durch noch so schmierige Sympathiebekundungen und Mahnungen vom Antisemitismus-Vorwurf freizukaufen. Stattdessen: Schweigen oder Verharmlosung.
Nicht durchgängig, muss man fairerweise sagen. Ein Freund von mir wurde sogar in eine Fernseh-Talkshow eingeladen, um über seine Erfahrungen als Kippa tragender junger Jude zu reden. Vorher saßen wir in einem Deli und aßen Pastrami-Sandwiches. Levi war sich nicht sicher, wie weit er in seinen Bemerkungen gehen konnte, ohne eventuell Rechten in die Hände zu spielen, wenn er über Antisemitismus in Deutschland auch als arabisch-migrantisches Problem sprach.
Ihn irritierte auch, dass er ständig gefragt wurde, ob er gehen wolle. Seine Antwort damals wie heute lautete: »Ob in New York oder Jerusalem – es gibt nirgendwo eine Garantie auf Sicherheit für Juden. Es gibt nur relative Sicherheit, und die ist in Deutschland relativ hoch. In Frankreich ist sie ziemlich niedrig.« Was sich jetzt wieder bewahrheitet hat.
zukunft? Angst – oder gar Panik – nach den Ereignissen in Frankreich ist nicht einfach nur verständlich, sie ist eigentlich logisch. Deswegen nennt man es ja Terror. Doch ein tröstender Gedanke: Die Gewalt gegen Juden in Deutschland nach 1933 ging vom Staat aus, der eine breite Mehrheit hinter sich hatte und wenige gegen sich. Heute geht sie von wenigen aus, mit einer breiten Mehrheit, die zusieht. Der deutsche Staat aber erweist sich als ein Beschützer der Juden. So deprimierend die geringe Zahl der Demonstranten bei der Kundgebung gegen Antisemitismus vergangenen September in Berlin war: Dass es sich um eine Funktionärs- und Politikerversammlung handelte, ist eine gute Sache.
Aber es macht das Leben nicht angenehmer. Es geht nicht mehr nur um Genervtheit, es geht tatsächlich um die Zukunft. Die Frage, ob es diese Zukunft tatsächlich nur noch in den USA und Israel gibt, ist noch nicht beantwortet. Juden haben keine Zukunft in Deutschland, weder politisch noch religiös, vielleicht noch nicht mal physisch, wenn die antisemitische Gewalt im Nachbarland die Menschen hier gleichgültig lässt. Deutschland hat zu zeigen, dass dem Land etwas liegt an seinen Juden, nicht nur auf dem Papier, nicht nur in Phrasen und Versprechungen.
Es gibt, neben dem »Wie geht es Juden in Deutschland«-Text, noch eine andere deutsch-jüdische-publizistische Tradition: den »Ich gehe weg«-Text. Henryk Broder hat einen 1981 geschrieben, zog nach Israel und kehrte dann wieder zurück; Maxim Biller schrieb einen 2006, ohne die Drohung wahr zu machen.
Und vor Kurzem schrieb Mirna Funk in der »Zeit« – von der sie eine »Berlinerin jüdischer Abstammung« genannt wurde – dass sie nach Israel geht wegen der Liebe und des Antisemitismus. Ich habe den Artikel auf Facebook verlinkt, weil ich ihn emotional verstehen konnte, aber in den Details haarsträubend fand. Ich diskutierte ihn mit meinen Freunden, wir krittelten an Funks Geschichtsbild herum, machten Witze, wünschten uns Sha Sha. Auf Englisch.