Am Morgen des 7. Oktober wird Milena von ihrem vibrierenden Handy geweckt: Raketenalarm. Sie schält sich besorgt aus dem Bett im Heim für Autisten, wo sie gerade eine Nachtschicht hinter sich gebracht hat. Doch ihr Kollege scheint unbekümmert. Es ist Schabbat, sein Telefon ist aus.
Einen Monat schon ist Milena in Israel. Sie weiß, dass das manchmal passiert: dass ein Alarm losgeht und trotzdem alle weitermachen wie zuvor.
Erst als sie wieder zu Hause ist, durchbrechen die Sirenen die Stille über Jerusalem. Übermüdet hockt Milena im geschützten Treppenhaus. Sie sieht, wie eine Rakete am Himmel zerschellt. Auf ihrem Handy liest sie, dass elf Terroristen auf israelischen Boden vorgedrungen sind. »Nur elf«, versucht Milena sich zu beruhigen. »Das schaffen wir schon.«
Plötzlich heißt es Krieg
Milena ist eine von 22 Deutschen, die im September 2023 mit dem Deutsch-Israelischen Freiwilligendienst der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) nach Israel reisen. Sie wissen, dass sie in ein konfliktreiches Land kommen. »Aber wirklich niemand von uns hat damit gerechnet, dass es plötzlich heißt: ›Wir sind jetzt im Krieg‹«, sagt Milena. Während die meisten deutschen Organisationen ihre Freiwilligen zurückholen, stellt es die ZWST ihren Teilnehmern frei, ob sie einen der Evakuierungsflüge nehmen. Milena gehört zu den Wenigen, die bleiben.
Milena ist 19 Jahre alt, ihr ganzes Leben hat sie bisher in Deutschland verbracht. Doch nach nur einem Monat in Israel entscheidet sie sich, unter Raketenbeschuss zu helfen, statt den sicheren Flieger nach Hause zu nehmen. Und auch jetzt, ein halbes Jahr später, ist sie noch da. »Ich habe meinen Dienst verlängert«, erzählt sie. Der Krieg hat sie mit einem Land verbunden, das sie kaum kannte.
Milena hat ihren Freiwlligendienst verlängert - trotz des Krieges.
Der Deutsch-Israelische Freiwilligendienst bietet aber auch jungen Israelis die Möglichkeit, sich in Deutschland zu engagieren. Shlomo zum Beispiel. Er ist wie Milena im September in ein fremdes Land aufgebrochen, »um mein routiniertes Leben zu durchbrechen«, wie er sagt. Auch er ahnte nicht, dass seine Heimat den tödlichsten Angriff ihrer Geschichte erleben wird, während er in Berlin ist, »um neue Erfahrungen zu sammeln«. Auch Shlomo hat der 7. Oktober verändert. »Ich bin nicht mehr derselbe wie vor ein paar Monaten«, sagt er heute.
Ein Tag prägt eine ganze Generation
Es gibt Ereignisse, die ganze Generationen prägen. Der 11. September ist so ein Ereignis. Fragt man Amerikaner, die alt genug sind, sich an dieses Datum zu erinnern, können sie einem mit beeindruckender Detailgenauigkeit erzählen, wo sie waren, als die Flugzeuge in die Türme krachten. Ein Jahr nach der Attacke gab die Hälfte der befragten Amerikaner in einer Studie an, jener Tag hätte ihr Leben verändert.
Gilt das gleiche für den 7. Oktober? Milena und Shlomo gehören zu einer Generation, für die das Hamas-Massaker nicht nur eine weitere schreckliche Nachricht ist. Ihre Biografien haben bis zu diesem Datum fast nichts gemeinsam. Und doch schildern beide, ohne einander zu kennen, einen ähnlichen Wendepunkt in ihrem jungen Leben. Ein Davor und ein Danach.
Ohne sich zu kennen, schildern beide einen ähnlichen Wendepunkt in ihren jungen Leben.
Shlomo ist älter als Milena, schon fast 30, als er beschließt, dass er für eine Weile etwas ganz anderes machen möchte. Zuvor hatte er in Tel Aviv als Comedian und Werbetexter Karriere gemacht, er stand auf der Bühne und konzipierte Kampagnen für BMW und Pizza Hut. Doch er wollte sein Talent für etwas Sinnvolleres nutzen. 2022 entwickelt er eine Erinnerungskampagne zum 50. Jahrestag des Attentats auf das israelische Sportteam bei den Olympischen Spielen in München. »Ich habe mich damals das erste Mal sehr intensiv mit unserer Geschichte, auch mit der Verfolgung und der Gewalt auseinandergesetzt.«
Nur ein Jahr später beschließt er, seinen Job zu kündigen, die Wohnung aufzulösen und gemeinsam mit seiner Frau für ein Jahr nach Deutschland zu ziehen. »Für die Familie meiner Frau war das erst einmal schwer zu verstehen, ihre Großmutter hat den Holocaust überlebt«, erzählt Shlomo. »Aber wir wussten, dass wir nach Deutschland gehen, um das genaue Gegenteil zu tun, nämlich einen Ort zu schaffen, wo Juden sich sicher und wohlfühlen.«
Shlomo und seine Frau leiten in ihrem Freiwilligendienst in Zusammenarbeit mit der Jüdischen Gemeinde zu Berlin das Projekt »Lavi« – sie leben als junges israelisches Paar in einer Berliner Wohnung mit großem Wohnzimmer, in dem jeden Freitagabend junge Juden den Schabbat feiern, bieten Hebräischkurse und Schreibwerkstätten an. »Wir teilen unser jüdisch-israelisches Zuhause«, erklärt Shlomo.
»Ich glaube ich habe in Deutschland das erste Mal realisiert, was Antisemitismus ist«
der israeli Shlomo macht einen Freiwilligendienst in berlin
Zum Interview möchte er sich aber lieber in einem Café treffen. Vielleicht, weil er das, was er zu erzählen hat, seinen 7. Oktober, nicht zu nah an dieses Zuhause heranlassen will. Shlomo sitzt in einem großen Samtsessel, die Tische ringsum sind leer. »Das Erste, was mir in Deutschland aufgefallen ist, war, wie ruhig alles ist«, sagt er. Ihm gefällt das irgendwie. Das Zweite, das ihm auffiel, waren die Stolpersteine. In Charlottenburg, wo er nun lebt, funkeln sie auf beinah jeder Straße. Aber auch sonst wird Shlomo ständig daran erinnert, dass Jude zu sein hier etwas anderes bedeutet als in seiner Heimat. »Ich glaube ich habe hier das erste Mal realisiert, was Antisemitismus ist«, sagt Shlomo.
»Als Israeli habe ich mir den Hass auf uns immer mit der politischen Situation erklärt. Aber in Deutschland traf ich Juden, die angefeindet werden, obwohl sie nichts mit dem Nahostkonflikt zu tun haben. Das ist purer, klassischer Antisemitismus.« Shlomo macht eine Pause, er stützt das Kinn auf die Hände, sucht nach einer Erklärung an der Decke des Cafés. »Ich dachte, wir hätten das überwunden, die Welt wäre irgendwie geheilt. Aber es ist alles noch da.«
»Ich bin nach Israel gekommen, um eine gelassenere jüdische Kultur kennenzulernen«
Milena, freiwillige in jerusalem
Auch Milena empfand das Jüdischsein in Deutschland oft als kompliziert. Ihr Vater ist Jude. »Laut der Halacha macht mich nichts jüdisch, aber trotzdem hat mich das immer beschäftigt«, sagt sie. »Ich bin auch deshalb nach Israel gekommen, weil ich eine gelassenere jüdische Kultur kennenlernen wollte.«
Am 7. Oktober ging Shlomo morgens in die Synagoge, wie jeden Schabbat. »Die Stimmung war komisch«, erinnert er sich. Ein Betender raunt ihm zu, Terroristen hätten die Stadt Sderot erobert. »Es klang apokalyptisch. Und ich dachte mir nur: Das kann doch überhaupt nicht sein.«
Nach dem Massaker fehlt von Shlomos Onkel jede Spur
Shlomo hat Familie in Sderot. Aber er beschließt, das ungute Gefühl beiseitezuschieben. Erst als der Schabbat vorbei ist, schaltet er sein Handy wieder ein. Im Familienchat auf WhatsApp sind viele neue Nachrichten. »Amram ist zur Synagoge losgelaufen«, steht da. Und: »Wir finden ihn nicht.«
Erst in den nächsten Tagen erschließt sich Shlomo langsam, was am 7. Oktober seiner Familie in Sderot passierte. Sie waren dort für die Feiertage zusammengekommen. Am Samstagmorgen verließ sein Onkel Amram das Haus – und lief den Terroristen quasi direkt in die Arme. Über Tage aber weiß niemand, was mit ihm passiert ist. Wurde er nach Gaza entführt? Versteckt er sich noch irgendwo? »Jeder in der Familie hatte seine eigene Theorie, wie er wohl überlebt haben könnte, klammerte sich an eine Hoffnung«, sagt Shlomo. Als immer klarer wird, dass Amram ermordet wurde, beschließt Shlomo, seinen Freiwilligendienst zu unterbrechen: Er fliegt nach Israel.
Im verwundeten Land versteht man sich
In den Wochen nach dem 7. Oktober, das beschreiben Milena und Shlomo ganz ähnlich, fühlt es sich für sie besser an, im verwundeten Israel zu sein als in Deutschland, wo niemand die Wunden sieht. »In Israel konnte ich wenigstens helfen, ich hatte eine Aufgabe«, sagt Milena. Noch lange erhält sie besorgte Nachrichten aus Deutschland, Freunde und Familie fragen, ob sie nicht zurückkommen wolle. Dann schreibt Milena einen langen Brief. »Ich habe erklärt, dass ich vorsichtig bin, aber auch, dass das Leben hier weitergeht und wir uns gegenseitig viel unterstützen. In Deutschland sieht man ja nur die Bilder vom Krieg.«
Auch Shlomo empfindet das so. Zurück in Israel packt er gleich mit an, engagiert sich in einer Kampagne für die Freilassung der Geiseln. »Ich denke, Menschen außerhalb Israels verstehen das nicht: Wir fühlen hier den Schmerz genauso, aber wir fühlen ihn gemeinsam. Es ist nicht mehr deine Geschichte, die einen Bruch erlitten hat, es ist die einer Nation.«
Shlomo besucht seine Großmutter, die Mutter von Onkel Amram. »Sie war noch kleiner und zarter geworden«, sagt er, und ihm schießen Tränen in die Augen. Shlomos Großmutter floh 1969 von Marokko nach Israel, nachdem ihr Vater vor seinem Laden in Meknes niedergestochen worden war. Ihren erstgeborenen Sohn Amram benannte sie nach ihm. Doch nun war auch er ermordet worden.
Nach einer Woche wurde seine Leiche gefunden, sein Vater fuhr hin, um ihn zu identifizieren, erinnert sich Shlomo. »Er war noch in seinen Tallit gehüllt, mit dem er sich am Morgen des 7. Oktober auf den Weg zur Synagoge gemacht hatte.«
Shlomo sagt, er sei seit dem 7. Oktober viel nachdenklicher geworden.
Shlomo bleibt einen Monat in Israel. »Ich habe allen um mich herum empfohlen, sofort in Therapie zu gehen«, sagt er. »Jeder, den ich traf, hatte einen Riss in der Seele.« Kollektives Trauma nennen das die Psychologen. Nach dem 11. September beschreiben selbst Menschen, die Hunderte Kilometer von den Anschlägen entfernt lebten, Ängste und Depressionen. Das Gefühl, von den Nachrichten verfolgt zu werden. In einem so kleinen Land wie Israel und zu einer Zeit, wo die brutalen Bilder nicht nur im Fernsehen, sondern ununterbrochen auf dem Handy laufen, mag das noch einmal potenziert gelten.
Der Krieg verändert den Alltag - auch im Heim für Autisten
Milena spürt diese kollektive Belastung vor allem auf der Arbeit, im Heim für Autisten. »Schon im Alltag ist jede kleine Veränderung für sie schwer auszuhalten«, erzählt sie. Der Krieg aber verändert alles. Die Busfahrten zur Behindertenwerkstatt werden zu gefährlich. Das Team hat nur eineinhalb Minuten, um alle in den Schutzraum zu bringen. »Das irritiert sie sehr, sie durchleben viel mehr Emotionen«, erzählt Milena. »Sie vermissen auch die anderen Freiwilligen, die zurückgeflogen sind.« Auch deshalb sei sie froh, in Israel geblieben zu sein.
Für Shlomo und seine Frau aber scheint es sinnvoller, nach Deutschland zurückzukehren: »Wir hatten das Gefühl, dass die Leute in der Diaspora uns mehr brauchen als in Israel.« Und tatsächlich kommen seither mehr Menschen in ihr Charlottenburger Wohnzimmer, zu »Lavi«: Juden, die noch nie Schabbat gefeiert haben, und Israelis, die eigentlich nichts mehr mit ihrer Heimat zu tun haben wollten. »Für viele brachte der 7. Oktober eine Erkenntnis: dass du vor deiner Identität nicht davonlaufen kannst«, sagt Shlomo.
Der junge Mann und seine Frau versuchen, diese erschütternde Erfahrung mit einem Gemeinschaftsgefühl aufzufangen. »Ja, es war noch nie so schmerzhaft, Jude zu sein, aber es war auch noch nie so verbindend«, sagt Shlomo.
Auch Milena ist diese Identität in den vergangenen Monaten immer wichtiger geworden. Zum ersten Mal in ihrem Leben feiert sie in Israel die jüdischen Feiertage. Im Juni ist ihr verlängerter Freiwilligendienst zu Ende. Milena aber möchte langfristig in Israel bleiben.