Am vergangenen Donnerstag ist Michel Friedman (68) nach mehr als 40 Jahren Mitgliedschaft aus der CDU ausgetreten. Der Frankfurter Publizist ging mit Friedrich Merz hart ins Gericht: »Was gestern passiert ist, war nicht Business as usual, das war nicht Tagespolitik. Das war kein Betriebsunfall. Jeder Politprofi musste wissen, dass es so kommen würde, wie es am Ende kam. Niemand soll jetzt die Hände in Unschuld waschen«, sagte Friedman der »Jüdischen Allgemeinen«.
Am Vortag hatte der Bundestag mehrheitlich einem Entschließungsantrag der CDU/CSU-Fraktion zugestimmt, in dem dauerhafte Kontrollen an den deutschen Grenzen, die Zurückweisung illegal einreisender Personen sowie die Unterbringung Ausreisepflichtiger in Abschiebelagern gefordert werden. Zur Begründung verwiesen Merz und andere Vertreter der Union auf den tödlichen Angriff von Aschaffenburg, bei dem ein abgelehnter Asylbewerber aus Afghanistan zwei Menschen ermordete. Es sei jetzt an der Zeit zu handeln, so der Tenor.
Klares Signal
Der Antrag der Union bekam aber nur deswegen eine Mehrheit, weil ihm nicht nur die FDP, sondern auch die Abgeordneten der AfD zustimmten. SPD und Bündnis 90/Die Grünen hatten Merz signalisiert, das Vorhaben abzulehnen. Der CDU-Kanzlerkandidat war also gewarnt. Doch der ließ sich nicht beirren und wollte noch vor der Bundestagswahl das klare Signal aussenden, dass mit ihm als Bundeskanzler eine restriktivere Asyl- und Zuwanderungspolitik Einzug halten werde.
Fast alle Mitglieder der Unionsfraktion unterstützten ihn dabei. In Jubel brach nach der Abstimmung aber nur die Fraktion der AfD aus. Deren Geschäftsführer Bernd Baumann feixte: »Jetzt beginnt was Neues, und das führen wir an, die neuen Kräfte der AfD. Sie können folgen, Herr Merz, wenn Sie noch die Kraft haben.«
Nicht nur von der Opposition, auch aus der eigenen Partei kam Kritik, obwohl Merz nicht müde wurde zu betonen, dass unter seiner Führung die CDU niemals mit der AfD zusammenarbeiten und auch keine Absprachen mit ihr treffen werde. Besonders hart für den wahlkämpfenden CDU-Chef: Altbundeskanzlerin Angela Merkel bezog gegen ihn Stellung und warf Merz Wortbruch vor. Merkel bezog sich auf seine Rede im Bundestag kurz nach dem Ende der Ampel-Koalition, in der er versprochen hatte, bis zur Wahl keine Mehrheiten mit der AfD zuzulassen.
Einigung ohne die AfD
Am Freitag stand dann erneut ein Antrag der Union zur Abstimmung. Ein bereits im September eingebrachter Entwurf für ein »Zustrombegrenzungsgesetz« sollte beschlossen werden. Zuvor unternahm Merz noch einen letzten Versuch, eine Einigung ohne die AfD zu erzielen. Vergebens. Nach vierstündigen Verhandlungen mit den Fraktionen der bisherigen Ampel-Koalition wurde erneut scharf debattiert.
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich warf Merz sogar vor, mit seinem Kurs das »Tor zur Hölle« geöffnet zu haben. Der CDU-Chef verwahrte sich dagegen, politisch in die Nähe der AfD gerückt zu werden.
Doch der Gesetzentwurf verfehlte überraschend die Mehrheit, obwohl AfD und BSW zugestimmt hatten. Aus den Reihen von CDU/CSU und vor allem der FDP hatten zahlreiche Abgeordnete nicht an der Abstimmung teilgenommen, darunter sicher einige aus Ablehnung des gemeinsamen Abstimmens mit der AfD.
Michel Friedman tritt aus der CDU aus, während Michael Wolffsohn den Kurs der Union verteidigt.
Am Wochenende gingen dann Hunderttausende in ganz Deutschland auf die Straße, um gegen einen vermeintlichen Rechtsruck zu protestieren. In Berlin versammelten sich rund 160.000 Menschen unter dem Motto »Aufstand der Anständigen – Wir sind die Brandmauer« vor dem Brandenburger Tor, wo unter anderem Michel Friedman als Redner auftrat.
Es kam auch zu gewalttätigen Protesten gegen CDU-Geschäftsstellen im Land. Merz äußerte die Erwartung, dass sich SPD und Grüne von »Organisationen aus dem linksextremen Lager« deutlich abgrenzen müssten. Umfragen zeigen ein gespaltenes Land: Laut ZDF-Politbarometer finden 47 Prozent der Befragten das Vorgehen der Union gut, 48 Prozent lehnen es ab.
Unterschiedliche Reaktionen
Unterschiedlich sind auch die Reaktionen in der jüdischen Gemeinschaft. Zentralratspräsident Josef Schuster kritisierte alle Akteure. Sie hätten es durch ihr Agieren zugelassen, »dass Rechtspopulismus und Rechtsextremismus unsere gesellschaftlichen Debatten bestimmen«.
Der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn verteidigte hingegen das Vorgehen der Union und den Kurs ihres Kanzlerkandidaten. Es müsse möglich sein, im Parlament wechselnde Mehrheiten zu erreichen, sagte er im Sender »Welt TV«. In einigen Demokratien werde das erfolgreich praktiziert. »Ich denke etwa an Dänemark, wo die Rechtsextremisten von vorher 20 Prozent auf knapp drei Prozent zurückgeschrumpft worden sind. Man darf auch mal von anderen lernen.«
Anders äußerten sich Holocaust-Überlebende. Albrecht Weinberg (99) gab aus Protest sogar sein Bundesverdienstkreuz zurück. Die Auschwitz-Überlebende Eva Umlauf (82) schrieb einen offenen Brief. Darin appellierte sie noch vor der Abstimmung am Freitag an Merz: »Unterschätzen Sie die Rechtsextremisten nicht. Kehren Sie um auf dem Weg, den Sie am Mittwoch beschritten haben. Gehen Sie auf die anderen demokratischen Parteien zu, finden Sie Kompromisse.«
Auch das American Jewish Committee (AJC) zeigte sich kritisch. Remko Leemhuis, Direktor des Berliner Büros der Organisation, störte sich vor allem am zeitlichen Ablauf im Bundestag. Denn unmittelbar vor der Abstimmung hatte die Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus stattgefunden. Nach der Rede des Überlebenden Roman Shvartsman wäre ein Innehalten angebracht gewesen, meinte Leemhuis. Er nannte es »zutiefst bedauerlich«, dass der Tag ausgerechnet mit den Bildern jubelnder AfD-Abgeordneter zu Ende gegangen sei.
Von Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien, die auch stellevertretende Bundesvorsitzende ihrer Partei und Vorsitzende des Jüdischen Forums in der CDU ist, kam eine Mahnung: »Alle, die es mit dem Land gut meinen, müssen jetzt aufeinander zugehen. Es braucht eine Vertrauensbasis, um nach dem 23. Februar zu einer stabilen Regierung zu kommen und eine Politikwende umzusetzen«, sagte sie dem Nachrichtenportal »Web.de«.
Friedrich Merz habe sich mit seinem Vorgehen für »Glaubwürdigkeit« entschieden, so Prien. Über rechtliche Bedenken müsse man aber diskutieren.
(Mitarbeit: Imanuel Marcus)