Sozialstaat

Gemeinsam schultern

Allein gelassen: Es gehört zu den Grundsätzen des Miteinanders, dass die Starken den Schwachen unter die Arme greifen. Foto: dpa

Der deutsche Sozialstaat ist ein Auslaufmodell, zumindest nach Überzeugung von Guido Westerwelle. Gerade hat der FDP-Chef bei Hartz-IV-Empfängern »spätrömische Dekadenz« ausgemacht und hält das Land für so etwas wie eine »sozialistische Republik«. Prompt hat eine lautstarke Grundsatzdebatte über den Reformbedarf des Sozialstaats begonnen. Doch die Gerechtigkeitsfrage wird nicht nur bei Arbeit und Lohn gestellt, sondern mindestens ebenso grundsätzlich beim Thema Gesundheit. Kopfpauschale, Krankenkassenwahl und Zusatzbeiträge lauten die Schlagworte, wenn es um unser aller physisches und psychischesWohl geht. Denn Gesundheit ist unbezahlbar – aber das Gesundwerden kann ziemlich teuer werden.

Gesundheit an Körper und Seele ist im Judentum ein zentraler Wert. Gott wird im täglichen Gebet gepriesen als der, »der die Kranken heilt«. Damit ist jedoch kein Glaube an Magie und Wunderheilung gemeint, denn es wird ein entsprechendes Engagement von den Menschen verlangt, und zwar auf drei Ebenen: von jedem Einzelnen, der überschaubaren Gemeinschaft von Familie, Freunden und Bekannten sowie der Gesellschaft als Ganzes.

krankenbesuch Die eigene Verantwortung des Menschen, durch gesunde Ernährung und Lebensweise auf sich zu achten, wird schon in der rabbinischen Literatur betont: »So wie ein Baum vom Landwirt gepflegt werden muss, um Frucht zu bringen, muss auch der Körper vom Arzt behandelt werden, um gesund zu sein«, heißt es im Midrasch. Gleichzeitig sind auf der ganz direkten Ebene des Miteinanders Menschen füreinander verantwortlich, und Bikkur Cholim, der Krankenbesuch, ist Pflicht jedes Einzelnen. Das bedeutet, man soll den anderen nicht mit seiner Krankheit und den psychischen und materiellen Folgen alleine lassen. Auf der familiären, nachbarschaftlichen und gemeinschaftlichen Ebene ist das oft nicht einfach. Vielleicht kann man das Gejammere der alten Tante schon längst nicht mehr hören; die Depression eines Freundes zieht einen bei jedem Besuch selbst so runter, dass man sich fragt: Wie lange kann ich mir das noch antun?

Idealerweise sind Familie und Freunde füreinander da und kümmern sich im Krankheitsfall umeinander. Doch in der Realität reicht das meist nicht aus. Hier kommt die Solidargemeinschaft der Gemeinde und der Gesellschaft ins Spiel.
Schon im Talmud (Sanhedrin 17b) wird festgelegt, dass eine Stadt nur dann ein akzeptabler Wohnort ist, wenn es dort öffentliche Wohlfahrtspflege, einen Arzt und sanitäre Einrichtungen gibt.

Selbstverständlich reicht die Pflicht zur Krankenversorgung über die jüdische Gemeinschaft hinaus: Wenn es im Talmud (Gittin 61a) heißt: »Wir versorgen die nichtjüdischen Armen mit den jüdischen Armen, besuchen die nichtjüdischen Kranken mit den jüdischen Kranken, begraben die nichtjüdischen Toten mit den jüdischen Toten« um des Friedens willen, dann entspricht das bis heute jüdischer Praxis.

sozialabgaben Dass Gesundheit etwas kostet, dass der Einzelne und die Gemeinschaft dabei an Grenzen stoßen, ist keine neue Entdeckung der Gegenwart, sondern wird bereits im Schulchan Aruch diskutiert: Ärzte sollen günstigere Tarife für Arme berechnen. Wo das nicht möglich ist, muss die Gesellschaft die medizinische Versorgung entsprechend unterstützen. Und die Höhe der verpflichtenden Zedaka – also der Sozialabgaben – richtet sich nach dem jeweiligen Einkommen. Das einzige Mal, wo tatsächlich eine »Kopfpauschale« von einem halben Schekel eingezogen wird, geht es vor allem um eine Art Volkszählung, weniger um eine Sozialsteuer.

Ganz pragmatisch wird auch darauf geachtet, dass ein Gebender sich nicht selbst überfordert: Mehr als ein Fünftel des Einkommens darf nicht als Zedaka gegeben werden. Das Ideal des Bettelmönchs, der der Gemeinschaft zur Last fällt, ist dem Judentum fremd. Ein Ausleben der eigenen Heiligkeit auf Kosten der anderen ist verpönt.

Gesundheitsfürsorge ist eine zentrale Aufgabe der Gemeinschaft, die auf Solidarität gründet. Es ist daher wenig überraschend, dass sich in den USA gerade jüdische Stimmen und Organisationen für die Healthcare-Reform von Präsident Obama einsetzen.

spiel der kräfte Die jüdische Tradition findet zudem scharfe Worte für diejenigen, die von den Gesundheitsbedürfnissen der anderen und Ärmeren profitieren: Wenn jemand krank ist und eine bestimmte Medizin braucht, darf man deren Preis nicht erhöhen. Preisgestaltung nach Angebot und Nachfrage im freien Spiel der Kräfte der Pharmaindustrie ist also nicht opportun. In vielen Texten wird betont, dass Spenden von einem unabhängigen Gremium verwaltet werden müssen – eine klare Aufforderung auch für unsere Politiker heute, die Verwaltungskosten bei Krankenkassen und im Gesundheitswesen gering zu halten. Und eine echte Herausforderung für Guido Westerwelles Freidemokraten.

Düsseldorf

Mehr als 4500 antisemitische Straftaten im vergangenen Jahr

Judenhass ist in Deutschland verbreitet. Das zeigt sich erneut in einer erschreckend hohen Zahl von Straftaten

 05.02.2025

Kommentar

Historischer Tabubruch? Einreißen der Brandmauer?

Friedrich Merz und die Verschärfung der Migrationspolitik: Eine Einordnung von JA-Chefredakteur Philipp Peyman Engel

von Philipp Peyman Engel  05.02.2025 Aktualisiert

Riad

Saudi-Arabien bekräftigt Unterstützung für Palästinenser

Mithilfe der USA will Israel sein Verhältnis zur Führung in Riad normalisieren. Doch die Saudis stellen Bedingungen

 05.02.2025

Washington D.C.

Netanjahu berät über Verhandlungen mit der Hamas

Die Verhandlungen über die zweite Phase des Geisel-Deals hätte schon am Montag beginnen sollen

 04.02.2025

Kommentar

Hoffen wir, dass Donald Trump einen Plan hat

Der US-Präsident hätte nichts dagegen, wenn Israel Teile des Westjordanlands annektieren würde. Was will er damit bezwecken?

von Nils Kottmann  04.02.2025

Interview

»Es wäre zu schwer, um es weiterhin an meiner Jacke zu tragen«

Der Schoa-Überlebende Albrecht Weinberg möchte sein Bundesverdienstkreuz zurückgeben - aus Protest gegenüber dem Antrag der Unionsfraktion zur Asylpolitik

von Christine Schmitt  04.02.2025

Kassel

Kunsthochschule zeigt Terror-verherrlichende Ausstellung

Die Hochschule bot einem Mann eine Plattform, der einen Hamas-Terroristen zum »Superhelden« erklärte. Jüdische Studenten sind entsetzt

von Imanuel Marcus  04.02.2025

Berlin

»Es gibt einen Judenhass, der uns alle tief beschämt und gegen den wir bisher viel zu zögerlich vorgegangen sind«

Wo bleibe der Aufstand der Anständigen bei dieser Ausprägung des Antisemitismus, fragt der CDU-Chef

 04.02.2025

Berlin

Merz schließt jede Zusammenarbeit mit AfD aus

Der CDU-Chef erneuert auf dem Wahlparteitag ein klares Versprechen

von Jörg Blank  04.02.2025