Sind Juden in Europa noch sicher? Nein, sagt nicht nur Israels Premier Netanjahu. Er ruft uns deshalb auf, nach Israel einzuwandern – erst recht nach den blutigen Anschlägen auf Juden in Paris und Kopenhagen. Das alarmiert die uns wohlgesonnenen Nichtjuden. Deshalb bitten sie uns, hierzubleiben. Aber auch diejenigen, die uns gerne los wären, übersehen meist, dass Netanjahus jüngste Einwanderungsaufforderung keineswegs seine Spezialität und auch nicht der Aktualität geschuldet ist. Die jüngsten Ereignisse boten nur eine günstige Gelegenheit.
Netanjahu ist, wie es sich für den Ministerpräsidenten des jüdisch-zionistischen Staates gehört, Zionist – und eben nicht, wie die meisten Diasporajuden, Salonzionist. Das bedeutet: Zionismus heißt nicht Israelfahnen schwenken, »Schalom« rufen, Geld in die blauweiße Sammelbüchse werfen oder aufs Magbit-Konto überweisen.
Zionismus hieß und heißt: Alija, Einwanderung nach Israel, oder, wenn dort geboren, in Israel bleiben. Seit 1897 haben echte Zionisten daher die Juden der Welt stets zur Alija motivieren wollen. »Nein, danke!«, sagten bislang, aus welchen Gründen auch immer, die meisten Diasporajuden und werden es wohl auch künftig sagen. Israel ist ihnen nicht nur klimatisch zu heiß, die Sprache zu schwer, und die Feinkostküche Frankreichs und Westeuropas ziehen sie der israelischen immer noch vor.
wahlkampf Netanjahus Alija-Aufruf muss also historisch und ideologisch eingeordnet werden – nicht nur während eines israelischen Wahlkampfs und nicht nur wegen der jüngsten Anschläge. Gerade deutsche Juden erinnern sich (mit Schaudern?) daran, dass Israels früherer Staatspräsident Ezer Weizman sie bei seinem Deutschlandbesuch 1996 aufgefordert hatte, dieses Land zu verlassen und nach Israel zu gehen.
Noch viel früher, 1950, hatten Israel und die Jewish Agency Deutschlands Juden sogar ein Ultimatum gestellt: Sie müssten innerhalb von sechs Monaten dem »Land der Mörder« den Rücken kehren und (unausgesprochen) nach Israel einwandern. Heinz Galinski hatte den Mut, dies zu entgegnen: Deutschlands Juden würden sich von niemandem, auch nicht von anderen Juden, vorschreiben lassen, wo sie leben sollen und wo nicht. Das Ultimatum verstrich, heute leben in Deutschland rund 200.000 Juden.
ex-sowjetunion Dass es so viele sind, verdanken wir der Einwanderung von Juden aus der Ex-Sowjetunion. Auch hier war Heinz Galinski der strategische Kopf. Israel hatte verlangt – ja, verlangt –, diese Auswanderer hätten, weil sie als Juden ausreisen durften, die Pflicht, in den jüdischen Staat zu gehen. Galinski konterte erneut mit dem Verweis auf individuelle und kollektive Selbstbestimmung. Es gab und gibt diese innerjüdische Fundamentalkontroverse zwischen Israel und der Diaspora seit jeher. Sie wird dauerhaft fortbestehen.
Drei lebensgefährliche, liquidatorische Hauptgefahren bestehen für die Juden der Diaspora: Islamisten, alte und neue Nazis, Linksterroristen. Auch das ist nicht neu. Die diskriminatorische Gefahr (der »gute alte Risches«, also der böse Wille Juden gegenüber) ist so alt wie die Diaspora selbst. Vor wenigen Tagen lieferte Roland Dumas, einst Außenminister unter Frankreichs Präsident Mitterrand, eine scheinbar neue, tatsächlich uralte Variante. Sie verbindet Politik mit Sexualität: Frankreichs heutiger Premier (auch ein Sozialist), so Dumas, sei »zu projüdisch« und »zu proisraelisch«, weil er von seiner jüdischen Frau manipuliert werde.
wehrpflicht Trotzdem bleiben die meisten Juden in der Diaspora. Wenn sie Frankreich, Dänemark, Großbritannien oder Deutschland dennoch verlassen, dann eher in Richtung USA. Weshalb nicht nach Israel? Deshalb: Israel ist ihnen zu gefährlich. Dort hat der Konflikt mit der islamischen Welt wie hier eine terroristische Dimension, aber eben auch eine dauerhafte und massive militärisch-zwischenstaatliche. Die lange Wehrpflicht sowie die zahlreichen Reservisteneinsätze locken Diasporajuden wenig, zumal es in Westeuropa und den USA keine Wehrpflicht (und keine großen Kriege) gibt.
Nur die Minderheit der jüdischen Diaspora ist religiös. In Israel haben die Religiösen, vor allem die Orthodoxen, den langen Marsch durch die Institutionen längst erfolgreich angetreten und bald vollendet. Weil ein orthodox-jüdisches Paar in Israel im Durchschnitt knapp acht Kinder bekommt, weltliche »nur« 2,9, wird die Orthodoxie noch stärker. Das ist für Diasporajuden wenig verlockend.
heimat Die Mehrheit der europäischen Diaspora ist westeuropäisch, Israel ist, sofern aschkenasisch, eher osteuropäisch geprägt. Dagegen haben aufgeklärte Juden aus Westeuropa nichts, aber es ist nicht ihre innere Heimat. Noch weniger ist es die Welt der orientalischen Juden Israels, die in ihrer großen Mehrheit der Orthodoxie nahestehen. Rund 23 Prozent der Bürger Israels sind Araber. Im jüdischen Staat leben also mehr Muslime als in Frankreich, Großbritannien oder Deutschland. Israels Muslime sind, wie ihre Glaubensbrüder in Europa, mit den Jahren ebenfalls militanter geworden.
Man verstehe mich nicht falsch. Ich sage nicht: Geht oder geht nicht nach Israel. Ich versuche nur, zu erklären, dass wir keine neue Kontroverse erleben. Ich erkenne und benenne die Gründe, weshalb Diasporajuden auch künftig wohl eher nicht nach Israel wechseln werden. Ich benenne die Tatsachen, ich bewerte sie nicht.
Der Autor ist Historiker und Verfasser der Bücher »Wem gehört das Heilige Land?«, »Juden und Christen« sowie »Zum Weltfrieden«.