Seine rauchige Reibeisenstimme ist für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in seinem Kampf gegen Kremlchef Wladimir Putin vielseitig einsetzbar. Der ehemalige Schauspieler spricht mal leise beruhigend und warnt vor Panik in Kiew angesichts des Vormarsches russischer Truppen.
Und wenn der 44-Jährige sich auf Russisch an Putin in Moskau wendet, klirrt seine Stimme wie Eisen. Warum Putin seine Soldaten zum Sterben und in die Kriegsgefangenschaft in die Ukraine schicke, fragt er am Samstag etwas übernächtigt in seinem militärgrünen Pullover in einer seiner vielen Videobotschaften.
»Ich bin hier«, sagt er am Morgen in der Bankowa-Straße im Zentrum von Kiew. Er ist in der Nähe des Präsidentensitzes und will per Video russische Behauptungen entkräften, er sei längst abgehauen. Russland lüge. Seit Tagen gewinnt der zuletzt in den Umfragen schwächelnde Staatschef an Profil, weil er sich mit scharfen Worten wehrt gegen den größten Angriff auf die Ukraine seit dem Zweiten Weltkrieg.
Ausgerechnet Russland, mit dem die Ukraine in der Sowjetunion friedlich zusammenlebte und gemeinsam gegen Hitlerdeutschland kämpfte, greift das in die EU und die Nato strebende Land an - mit Raketen. Wie hoch die Zahl der Toten und Verletzten ist, lässt sich kaum überprüfen. Aber es sind viele. Und Zehntausende Menschen in der Ukraine fliehen vor den russischen Panzern - in Luftschutzbunker oder ganz raus aus dem Land.
Erst vor drei Jahren wechselte der durch eine Comedyserie bekannte jüdische Schauspieler, der einen entscheidungsfreudigen Präsidenten spielte, Russisch sprach und damit auch viele nicht nur im Kreml zum Lachen brachte, ins höchste Staatsamt. Er hatte die Wahl im April 2019 mit Rekordzustimmung von 73 Prozent gewonnen. Dennoch konnte der Politneuling nur wenige populäre Wahlversprechen umsetzen, findet sich nun in einem Krieg mit dem Nachbarn wieder. Aber er hält zum Ärger Moskaus dem Kampf gegen Putin bisher Stand. Auch das ukrainische Militär steht an seiner Seite. Die Armee folgte Putins Aufforderung nicht, die Regierung in Kiew zu stürzen.
Selenskyj gibt sich staatsmännisch und übersieht auch nicht, dass viele Russen den Feldzug Putins scharf verurteilen. Viele Ukrainer und Russen sind auf das engste familiär miteinander verbunden. Selenskyj hält das Menschliche stets hoch bei allem Druck von Moskau. Trotz seiner Popularitätswerte von zuletzt gerade einmal 30 Prozent laut Umfragen hat er durchblicken lassen, dass er 2024 zur nächsten Präsidentenwahl wieder antreten will.
Als einer seiner wichtigsten Konkurrenten gilt Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko, mit dem er auch in diesen schwersten Krisenzeiten in Kiew keinen Schulterschluss übt. Seit 2014 führt der Ex-Boxweltmeister die Stadt mit den 2,8 Millionen Einwohnern. Genau wie Selenskyj tritt Klitschko seit Tagen nur noch in olivgrünen Pullis auf. Auch ihm steht die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben, der Bart ist länger geworden. »Die Nacht war schwer, doch es gibt keine russischen Truppen in der Stadt«, sagt der 50-Jährige am Samstag in einem Video, das er im sozialen Netzwerk Telegram veröffentlicht.
Mal steht Klitschko vor einer Stadtkarte Kiews, wenn er spricht, mal vor der ukrainischen Flagge. Außerdem informiert er über Verletzte und über Luftschutzalarm - und vor allem schwört er die Bewohner aufs Durchhalten ein. »Die Gerechtigkeit ist mit uns.« Doch in seiner Stadt breiten sich Angst und Unsicherheit immer mehr aus. Der sonst so belebte Hauptplatz Maidan ist auf beinahe gespenstische Art menschenleer.
Schwerbewaffnete Soldaten laufen an anderer Stelle durch die Trümmer, die russische Luftangriffe hinterlassen haben. Die Metro in der Stadt hat den Betrieb eingestellt, die Stationen dienen nun als Schutzräume. Zur Abwehr des befürchteten großen Angriffs haben die Behörden eigenen Angaben zufolge insgesamt 25 000 automatische Waffen sowie 10 Millionen Patronen an die Einwohner verteilt. Auch Panzerabwehrwaffen seien ausgehändigt worden.
Die Raketeneinschläge und Explosionen klingen wie »Gewitterdonner«, erzählt ein Reporter der Deutschen Presse-Agentur aus einem Schutzkeller in einem Hotel am Samstag. In der Wohnung im schicken Stadtzentrum sei es nicht mehr sicher gewesen. Die Straßen sind leer.
Der Kiewer Andrej Masur wiederum ist das erste Mal seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ruhig. Und das, obwohl sich die Lage auch rund um die Hauptstadt zuspitzt. »Ich habe endlich eine Waffe«, sagt er und zeigt sie stolz übers Videotelefon. Er habe immer Angst vor Waffen gehabt, auch, weil er nicht wirklich wisse, wie man sie benutze. Sieben Schuss, denke er, habe er. »Damit kann ich immerhin wen erschrecken oder mir etwas Zeit verschaffen«, sagt er. »Auch ein Messer habe ich bekommen. Mein Freund meinte, am besten ins Bein rammen, wenn nötig.«
Masur hat eigentlich ein Reisebüro mit 40 Mitarbeitern. Der 38-Jährige erzählt, er habe sich aber immer schon für andere eingesetzt und gerne geholfen. Trotz des Krieges und der Gefahr auch an diesem Samstag: Er ist seit den frühen Morgenstunden quer durch Kiew unterwegs. Erst für Bekannte einkaufen, vor allem alleinstehende Frauen, die das Haus wegen des andauernden Beschusses der Stadt nicht verlassen wollten. Aber auch für das Militärkrankenhaus. In einer Facebook-Gruppe habe er gelesen, dass dort Lebensmittel benötigt würden. Nun fährt er mit einem vollen Kofferraum mit Fisch, Keksen, Tee und Cola durch die Stadt. Er gesteht, er sei über eine rote Ampel gefahren, als der Fliegeralarm wieder einmal losging.
Aufgrund der aktuellen Lage jedoch gelinge kaum etwas auf Anhieb. Er habe vor mehreren geschlossenen Supermärkten gestanden - und vor anderen, in denen es etwa kein Brot oder keine Butter mehr gegeben habe. »Die halben Regale waren leer«, erzählt er weiter. Mittlerweile sei er bei der dritten Tankstelle, die kein Benzin hat. Diesel und Gas gibt es noch. Mehrere Brücken in der Stadt sind bereits gesperrt und er muss kurzfristig eine andere Route wählen. Immer wieder wird er an Kontrollpunkten angehalten und auch sein Kofferraum durchsucht.
Er will bleiben. »Ich war auch nie ein Fan unseres Präsidenten Selenskyj, aber ich muss sagen, ich bin wirklich stolz auf ihn und wie er alles meistert«, sagt Masur. »Ich danke ihm für seine Führung, sein gutes Beispiel ist ansteckend.« Prognosen will er keine abgeben, das sei auch nicht seine Aufgabe, sagt er. Er denke aber nicht, dass es zu einem schnellen Ende kommt. »Putin will uns demütigen. Aber ich bin mittlerweile bereit, mein Leben für unsere Freiheit zu geben.«