Sechs Tage sollst du arbeiten», steht in den Zehn Geboten, «und am siebenten Tag sollst du ruhen.» Von Streiks wurde nicht gesprochen. Ein Arbeitstag soll eigentlich ein Arbeitstag sein, ein Ruhetag ein Ruhetag. Doch während ich diese Zeilen schreibe (ich bin Freiberufler, ich darf nicht streiken), hören viele von uns besorgt die Nachrichten an. Welche Züge werden in den nächsten Tagen durchs Land fahren – und welche wegen streikender Lokführer auf Abstellgleisen warten?
Schon vor zwei Wochen musste ich darüber nachdenken, einen Tag früher von Berlin zu meinen Gemeinden nach Schleswig-Holstein aufzubrechen und dort zu übernachten, weil es unsicher war, ob ich die Fahrt an einem Vormittag schaffen könnte; schon einmal musste ich sehr kurzfristig (und sehr teuer) um Mitternacht ein Flugticket kaufen, weil um 22 Uhr entschieden wurde, meinen Fernzug am folgenden Tag zu annullieren; schon mehrmals habe ich (gegen meinen Willen) online nach Fernbus-Verbindungen gesucht. Ich habe schon eine bitterböse E-Mail an die Gewerkschaft der Lokführer geschrieben, um sie zu fragen, was ich eigentlich mit ihrer Sache zu tun habe. Natürlich gab es keine Antwort.
partikularinteressen Was mich ärgert: Es geht hier überhaupt nicht um soziale Gerechtigkeit, um Arbeitsplätze und faire Löhne, sondern nur um Partikularinteressen. Bei der Gewerkschaft der Lokführer wollen einige große Platzhirsche angeblich auch eine «Gewerkschaft der Speisewagenkellner und der Zugschaffner» aufbauen. Obwohl die schon eine Gewerkschaft haben.
Was sollen die Pioniere der Gewerkschaftsbewegung nur denken? Die Helden (und viele von ihren waren jüdisch, wenn auch nicht sehr religiös) kämpften für die Rechte der Arbeiterklasse, für Lohn und Brot und Gerechtigkeit. Für einen Arbeitstag von «nur» 14 Stunden, für eine Woche Urlaub im Jahr. Für Schutz gegen gefährliche Maschinen, für Altersrente, für Witwenrente, falls die Brotverdiener durch harte Arbeit, Tuberkulose oder Betriebsunfälle früh starben. Wie man in England sagt: «Wären sie noch am Leben, würden sie sich in ihren Gräbern umdrehen!»
Ich kann nur hoffen, dass die Lokführer sich eines Besseren besinnen. Sonst muss man eine neue Version von «Tefillat Haderech» schreiben: «O Ewiger, halte von uns Reisenden Feinde, böse Tiere und übereifrige Gewerkschafter fern, damit wir in Frieden an unser Ziel kommen können.»
Der Autor ist Landesrabbiner in Schleswig-Holstein und lebt in Berlin.