Als 25 führende Vertreter der neu etablierten jüdischen Gemeinden am 19. Juli 1950 in Frankfurt am Main zusammenkamen, um eine Gesamtvertretung der in Deutschland lebenden Juden ins Leben zu rufen, bedeutete dies nicht die Wiederbeschwörung einer vergangenen Epoche, sondern den Aufbruch in eine neue Zeit.
Das deutsche Judentum, so wie es vor 1933 einmal bestanden hatte, konnte nicht mehr wiederbelebt werden. Die osteuropäisch geprägte Gemeinschaft der aus Holocaust-Überlebenden bestehenden Displaced Persons hatte sich größtenteils aufgelöst und war nach Israel beziehungsweise Amerika ausgewandert. Die wenigen, die aus beiden Gruppen in West- und Ostdeutschland verblieben waren, konstituierten sich zum Zentralrat der Juden in Deutschland.
kontinuität Der Name zeigte bereits an, dass keine Kontinuität zu der Zeit vor 1933 beabsichtigt war. Denn damals betrachtete man sich als deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens. Nun also ein Zentralrat der Juden in Deutschland. Das sollte jedem klarmachen: Wir leben zwar wieder hier, aber wir geben uns so schnell nicht mehr der Illusion hin, ein unauflöslicher Teil der deutschen Gesellschaft sein zu können.
Das deutsche Judentum, so wie es vor 1933 einmal bestanden hatte, konnte nicht mehr wiederbelebt werden.
Der Name sollte zudem auch darauf hinweisen, dass die Mehrzahl der Juden in Deutschland nun eben keine deutschen Juden mehr war, sondern Menschen osteuropäischer Herkunft, die im Nachkriegsdeutschland »hängen geblieben« waren.
Dieser Zentralrat hatte zunächst einmal ganz handfeste Aufgaben zu lösen: Es ging darum, das religiöse Leben zu sichern, den Überlebenden einen Lebensabend in Würde zu gewähren, die Friedhöfe wiederherzustellen, den Besitz der Gemeinden wieder zu reklamieren und ihren Mitgliedern eine zumindest materielle Rückerstattung für das erlittene Unrecht zu erkämpfen.
neuanfang Ob dieser Zentralrat nur das letzte Kapitel deutsch-jüdischer Geschichte, ihren Epilog sozusagen, darstellen oder ob er einen langfristig ausgerichteten Neuanfang gestalten sollte, darüber war man sich keineswegs einig. Die drei zentralen Figuren der Gründungszeit, allesamt deutsche Juden und Auschwitz-Überlebende, sahen dies sehr unterschiedlich.
Norbert Wollheim, Sprecher der Juden in der britischen Zone, sah keine Zukunft in Deutschland und emigrierte 1951 in die USA. Philipp Auerbach, bayerischer Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte, kämpfte gegen den noch immer grassierenden Antisemitismus mit den gleichen Erfolgsaussichten wie Don Quijote gegen Windmühlen. Als er selbst wegen Veruntreuung angeklagt wurde, nahm er sich ein Jahr später in einer Münchner Gefängniszelle das Leben.
Übrig blieb aus diesem Triumvirat Heinz Galinski, über vier Jahrzehnte lang Vorsitzender der noch bis 1953 vereinten Berliner Gemeinde. Galinski blickte vor allem nach vorn und sollte damit die Weichen des Zentralrats stellen, den er bis 1963 und dann wieder von 1988 bis zu seinem Tod 1992 leitete.
demokratie Man vergisst dabei heute allzu leicht, dass die offiziellen Stimmen, die sich gegen dieses jüdische Leben in Deutschland aussprachen, nicht unbedingt im Lande verortet waren. Im Gegenteil: Wie Vertreter der deutschen Regierung immer wieder beteuerten, beförderten sie jüdisches Leben, denn an seiner Entwicklung – so hatte es schon der letzte Militärgouverneur der amerikanischen Zone, John Jay McCloy, 1949 ausgedrückt – sollte das Ausland den Stand der deutschen Demokratie messen.
Der Widerstand gegen den Wiederaufbau jüdischen Lebens kam vor allem aus den jüdischen Organisationen außerhalb Deutschlands, die bereits während des ersten Nachkriegstreffens des Jüdischen Weltkongresses deutlich machten, dass man auf dieser »blutgetränkten Erde« kein Leben mehr aufbauen könne, wie auch aus Israel, aus dem man die in Deutschland verbliebenen Juden zur Einwanderung in den jüdischen Staat aufforderte, denn in Deutschland sei kein jüdisches Leben mehr vorstellbar.
Der Widerstand gegen den Wiederaufbau jüdischen Lebens kam vor allem aus den jüdischen Organisationen außerhalb Deutschlands.
Der Zentralrat führte einen letztlich sehr offensiven und erfolgreichen Kampf um seine Anerkennung in der jüdischen Welt. Noch 1996 musste der damalige Zentralratsvorsitzende Ignatz Bubis gegenüber dem israelischen Präsidenten Ezer Weizman die Existenz einer deutsch-jüdischen Gemeinschaft verteidigen. Heute bezweifelt kaum jemand mehr das Recht der Niederlassung der Juden in Deutschland.
diasporagemeinde Niemand der Zentralratsgründer hätte vor 70 Jahren erahnen können, dass Deutschland einmal das Land mit der am schnellsten wachsenden jüdischen Diasporagemeinde werden würde, dass es unter jungen Israelis einen Berlin-Hype geben würde und dass jemals Rabbiner aus Deutschland in die Welt exportiert werden würden.
Allerdings hatten sie sich auch nicht vorstellen können, dass 75 Jahre nach dem Holocaust der Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft wieder aufblüht. Bei allen unterschiedlichen Herausforderungen nimmt der Zentralrat auch heute noch die wichtigen Funktionen ein, die er schon bei seiner Gründung hatte: jüdisches Leben aufrechtzuerhalten, jüdische Erziehung und Kultur zu gewährleisten, Neueinwanderer zu integrieren und Antisemitismus zu bekämpfen. Nur mit einem wichtigen Unterschied: Auf jeder Ebene gibt es heute ein bisschen mehr zu tun.
Der Autor ist Professor für Jüdische Geschichte und Kultur.