Porträt

Geflohen aus Gaza

Hamza Abu Howidy lebt seit einem Jahr als Asylbewerber in Deutschland. Er erhebt seine Stimme gegen die Hamas

von Sabine Brandes  15.07.2024 21:46 Uhr

»Ich habe viel Kriminalität und Brutalität der Terroristen gesehen«: Hamza Abu Howidy (26) über sein Leben unter der Hamas in Gaza Foto: Gustav Glas

Hamza Abu Howidy lebt seit einem Jahr als Asylbewerber in Deutschland. Er erhebt seine Stimme gegen die Hamas

von Sabine Brandes  15.07.2024 21:46 Uhr

Ein Gedanke, der ihm im Gefängnis etwas Hoffnung schenkte, war der: Die Menschen würden für seine Freilassung auf die Straßen gehen. Die westliche Welt würde lautstark skandieren: »Lasst diese jungen Leute frei!« Drei Wochen lang war Hamza Abu Ho­widy von der Hamas eingekerkert, wurde verhört und gefoltert, weil er im Gaza­streifen an Studentenprotesten für bessere Lebensbedingungen teilgenommen hatte. »We want to live« – »Wir wollen leben«, lautete das Motto. Es war 2019, und niemand rief nach seiner Freilassung. Nicht in Gaza und nirgendwo sonst auf der Welt.

Erst nachdem seine Familie 3000 Dollar Bestechungsgeld aufgebracht hatte, kam Hamza frei. »Als ich draußen war, war ich geschockt«, erzählt der 26-Jährige, »denn ich war mir sicher, dass überall von unserem Protest berichtet werden würde.« Für ihn sei dies ein Beweis der Heuchelei des Nachrichtensenders Al Jazeera aus Katar. »Sie berichten immerzu aus Gaza, doch gerade darüber bringen sie nichts.« Dabei seien die Proteste nicht einmal politisch gewesen, erzählt er. »Wir wollten einfach etwas Lebensqualität.«

Auch ich habe niemals von den Demonstrationen gehört. »Ich hätte gern darüber geschrieben«, sage ich zu dem jungen Mann am Bildschirm. Wir beide waren damals gerade einmal zwei Autostunden voneinander entfernt, und doch lagen zwischen uns Welten ohne jegliche Berührungspunkte. Er lebte in Gaza, ich in Tel Aviv.

Als Hamza hört, wo ich lebe, sagt er: »Ohhh«, und es klingt so, als würde er meine Stadt mögen. Er kennt sie sicher von Bildern und Videos aus dem Internet, besucht hat er sie noch nie. Ich erzähle ihm, dass ich einmal in Gaza war. Hamza ist erstaunt. Es war 1999, ich schrieb an einem Reiseführer mit dem Arbeitstitel »Israel und die Palästinensischen Gebiete«, spazierte über einen bunten Markt, probierte arabische Köstlichkeiten und sprach mit Hotel- und Restaurantbetreibern, die voller Hoffnung auf Touristen waren. Kurz darauf brach die Zweite Intifada aus. Das Buch erschien nie.

»Wir alle leiden und können nicht länger unter der Terrorherrschaft leben.«

Mein Herz klopft, als ich an einem Freitagnachmittag im Zoom-Call auf Hamza warte. In Tel Aviv ist es heiß, die Klimaanlage surrt über meinem Kopf. Wird er kommen? Wir hatten uns für den Tag davor verabredet, doch er sagte ab. Vielleicht, weil ich in Israel lebe? Vielleicht, weil ich für eine jüdische Zeitung arbeite?

Plötzlich erscheint er auf dem Bildschirm und entschuldigt sich für die fünfminütige Verspätung. In einem gebügelten Hemd sitzt er da und lächelt mich an. Ich lächle auch. Meiner Familie hatte ich vorher von dem Interview erzählt. Alle wollen zuhören und »Hallo« sagen. Oron, mein israelischer Mann, und Hamza, der Mann aus Gaza, winken einander zu. Von Bildschirm zu Bildschirm. Von Mensch zu Mensch. Wir bewundern Hamza, denn das, was er tut, ist mutig. Sogar mehr als das. Mit seinen Aussagen riskiert er sein Leben.

Andere, die mit ihm inhaftiert waren, konnten die Tausende von Dollar Bestechungsgeld für die Hamas nicht aufbringen

Nachdem er 2019 aus dem Gefängnis in Gaza freikam, zog er sich zunächst zurück. Das hatte ihm die Hamas aufgetragen, um nicht erneut festgenommen zu werden. Andere, die mit ihm inhaftiert waren, konnten die Tausende von Dollar nicht aufbringen. Was mit ihnen geschah, weiß er nicht.

Hamza Abu Howidy wuchs mit seiner Familie in Rimal, einem Viertel in Gaza-Stadt, auf und studierte Wirtschaft und Verwaltungswesen an der Islamischen Universität. Wie war es, im Gaza­streifen aufzuwachsen? »Ein permanenter Albtraum«, sagt er. »Ich liebe Gaza und die Menschen dort, aber wir waren in allen Bereichen des Lebens durch Hamas eingeschränkt, und ich habe viel Kriminalität und Brutalität der Terroristen gesehen. Obwohl ich schon immer eine andere Einstellung hatte und ihre Ideologie nicht akzeptierte, war ich gezwungen, mit ihnen zu leben.«

Nach dem Abschluss seines Studiums versuchte er, Arbeit zu finden. »Doch es gab keinen Job für mich, alle gingen an Mitglieder der Hamas.« 2023 hatte er genug von der Einschüchterung. Er ging wieder bei einem Studentenprotest auf die Straße, wieder riefen sie nach besseren Lebensbedingungen. »Aber schon nach einer halben Stunde kam die Hamas und nahm uns alle fest, 1400 Leute.« Erneut wurde Hamza eingekerkert und gefoltert.

Nach einigen Wochen habe es seine Familie noch einmal geschafft, Tausende Dollar aufzubringen – und das bei einem Monatsgehalt von umgerechnet rund 400 Euro. Schließlich kam Hamza frei, doch ihm war klar, im Gazastreifen könne er sein Leben nicht fortführen.

Im August 2023 floh er über die Grenze zu Ägypten, auch hier mithilfe von Bestechungsgeld in bar. Von dort weiter in die Türkei und dann auf einem Boot voller Flüchtlinge nach Griechenland. Im Übergangslager seien »viele mit extremistischen Ansichten gewesen«, erzählt er. Hamza sah sein Leben immer noch bedroht. »Ich musste dringend weg.«

Er floh weiter bis nach Deutschland und beantragte Asyl. Sein Verfahren läuft. Derzeit lebt er in einem Asylbewerberheim in einer mittelgroßen deutschen Stadt. Ist er dort in Sicherheit? Der junge Mann zögert mit einer Antwort. Es sei auf jeden Fall »besser als nichts, aber auch schwierig«.

Hamza ist entsetzt, dass im Westen Studenten die Hamas unterstützen und eine globale Intifada fordern

Im Westen angekommen, sei er entsetzt gewesen, dass »propalästinensische« Proteste, vor allem von Studenten, die Hamas unterstützen und eine globale Intifada fordern. »Sie begannen, am 7. Oktober zu demonstrieren, nachdem Hamas die Gräueltaten an Israelis begangen hatte. Das sollte uns sehr nachdenklich machen. Besonders in den USA haben sie Hamas glorifiziert – ein Terroristenregime. Auch wenn sie so tun, als seien sie aufseiten der Palästinenser, sind sie es nicht, denn die Hamas tötet und unterdrückt Palästinenser.« Noch »widerlicher«, sagt Hamza, finde er, dass viele Demonstranten die Proteste nutzten, um ihren Antisemitismus hinter »der palästinensischen Sache« zu verstecken. »Sie brüllen, dass ›Juden zurück nach Polen‹ gehen sollen.« Am liebsten würde er ihnen zurufen: »Warum schreit ihr nicht nach Frieden?« Sie sollten lieber Regierungen in der ganzen Welt drängen, damit Israelis und Palästinenser an einem Tisch sitzen, um diesen Konflikt zu beenden.

Absurd findet er, dass sich Teile der LGBTQ+-Community an den Protesten beteiligen. Was mit ihnen in Gaza passieren würde, beschreibt er an einem Beispiel: Mahmoud Ishtiwi, ein Hamas-Kommandeur, wurde ermordet, weil man ihn der Homosexualität beschuldigt hatte. Einen anderen Mann stieß man aus diesem Grund von einem Dach in den Tod. Die radikal-islamistische Gruppe sei wie die Taliban: »Für einen Spaziergang mit meiner Freundin könnte ich verhaftet werden, es ist gänzlich verboten. Wenn eine Frau ihre Haare nicht bedeckt, wird sie belästigt. »Die Menschen in Gaza leben praktisch mit dem Islamischen Staat – einem, der eine gute PR hat und sich als Widerstandsbewegung verkauft.«

Hamza beschreibt, dass die Parole »From the river to the sea« eine Unterstützung der Al-Qassam-Brigaden ist, des militärischen Flügels der Hamas, der für die Vertreibung aller Israelis aus ihrem Land steht. »Diese dummen Träume von der Auslöschung Israels sind abstoßend. Und irrsinnig, denn sie werden sowieso nie realisiert. Wir beide, Palästinenser und Israelis, sind hier und werden hier bleiben.« Die Hamas müsse kapitulieren und die Geiseln freilassen, dann könne ein Waffenstillstand erreicht werden. »Wir alle leiden unter der Hamas und können nicht länger unter der Herrschaft einer Terrorgruppe leben.«

Sie verhindere auch einen Wiederaufbau und eine Neuordnung für den Tag danach, denn sie ermorde systematisch Menschen, die in Zukunft mit Israel zusammenarbeiten könnten, beispielsweise Oberhäupter von Clans in Gaza ohne Verbindung zum Terror, die von vielen im israelischen Sicherheitsestablishment als Interimslösung für die Verwaltung der Enklave angesehen werden.

Eine Umstrukturierung in Gaza nach demokratischen Vorbildern, so wie er es sich wünscht, werde allerdings lange dauern, ist sich Hamza sicher, denn die Gesellschaft sei nach Jahren der fundamentalistischen Indoktrination »durch und durch radikalisiert«. In einer Umfrage sagten jüngst 73 Prozent der Befragten in Gaza, dass die Massaker der Terroristen am 7. Oktober »gerecht waren«.

»Wenn jemand einen Hamas-kritischen Beitrag in den sozialen Medien postet, steht nach zwei Stunden jemand vor der Tür und nimmt ihn fest«, erzählt Hamza

Wie sieht Hamza derartige Angaben? Er schüttelt den Kopf. »Man muss verstehen, dass die Menschen in Gaza keine Ahnung haben, wer eine Umfrage in Auftrag gibt, und sie haben Angst. Wenn jemand einen Beitrag in den sozialen Medien postet, der auch nur etwas kritisch in Richtung Hamas geht, steht nach zwei Stunden jemand vor der Tür und nimmt ihn fest.«

»Diese dummen Träume von der Auslöschung Israels sind abstoßend.«

Hamza trauert um alle unschuldigen Opfer in diesem Krieg, Palästinenser und Israelis gleichermaßen, und wünscht sich aus tiefstem Herzen eine Aussöhnung. Glaubt er an dauerhaften Frieden? »Dafür kämpfe ich«, sagt er, als gäbe es keine andere Wahrheit. »Wir werden es schaffen, Frieden zwischen unseren Völkern wird kommen.« Dafür aber brauche es eine Führung, die das vorantreibe und nicht das Leid der Palästinenser. Was er aber auch nicht will, ist, dass ein »Terrorregime durch ein korruptes System ersetzt wird«. Damit meint er die Fatah der Palästinensischen Autonomiebehörde. »Vielleicht könnte die Fatah für den Übergang einbezogen werden. Doch wir brauchen eine neue Bewegung für den Wandel.«

Wie sich gegen Ende des Zoom-Gesprächs herausstellt, hatte Hamza unsere ursprünglich für den Vortag geplante Verabredung abgesagt, weil ihn ein israelischer Freund zu einem Ausflug eingeladen hatte. »Das ist ein guter Grund«, sage ich. Wir lachen. Treffen mit Israelis sind ihm wichtig, weil er dadurch besser versteht, wie die andere Seite tickt.

Hamza möchte zurück in seine Heimat. Doch solange die Hamas dort herrscht, wird dies nicht möglich sein

Hamza hofft, dass Israelis und Palästinenser nach dem Krieg »verbunden« sein werden. Er möchte zurück in seine Heimat. Doch solange die Hamas dort herrscht, wird dies nicht möglich sein. »Nach allem, was ich gesagt und getan habe, würden sie mich sofort töten.«

Nachdem wir das Interview beendet haben, schreibe ich Hamza in einer WhatsApp-Nachricht, wie sehr mich unser Gespräch berührt hat. Er markiert meine Worte mit einem roten Herz. Vielleicht erscheint ja eines Tages doch mein Reisebuch durch Israel und die Palästinensischen Gebiete – einschließlich Gaza.

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