In diesem Jahr mussten wir mit einer Tradition brechen. Noch im vergangenen Jahr hatte das Jugendreferat des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein stolz mitgeteilt, dass wir nunmehr alljährlich gemeinsam mit der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf jeweils zum Jahrestag des Novemberpogroms ein Zeitzeugengespräch für jüdische Jugendliche veranstalten. Dreimal in Folge hatten wir diese Veranstaltung organisiert. Doch in diesem Jahr konnten wir einfach keinen reisefähigen Zeitzeugen mehr finden.
tränen Es war vor drei Jahren, 2010, als ein älterer Herr, ein aufrechter Mann mit breiten Schultern und wuchtigen Händen, von seiner Zeit als Jude in Deutschland unter den Nazis erzählte: von der Pogromnacht, vom Ghetto, vom KZ. Er berichtete, dass er im Nachhinein sogar alle Orte ausfindig gemacht habe, an denen seine Verwandten ermordet wurden, und sogar da wirkte er so distanziert, als ob dies nichts mit ihm zu tun habe. Als ob er eine Maske trüge. Nach seinem Bericht meldete sich ein Junge und fragte den Mann, ob er denn auch wisse, wo seine Frau ermordet wurde. Innerhalb von Sekundenbruchteilen zersplitterte seine Maske. Alle konnten es sehen. Mit tränenerstickter Stimme presste er heraus: »Nein, das konnte ich noch nicht.« In dem Raum, in dem 50 Jugendliche saßen, war kein Laut mehr zu hören.
Ich war damals einer der Organisatoren, mit einem Kollegen tauschte ich hektisch Zeichen aus, ob wir das Gespräch abbrechen sollten – doch dann fing sich der Mann wieder und setzte das Zeitzeugengespräch, nunmehr mit brüchiger Maske, fort. Während wir Organisatoren uns heute noch mit Schrecken an diese Szene erinnern, war es doch genau dieser sehr emotionale Moment, der sich in das Gedächtnis der Jugendlichen eingebrannt hatte.
Unsere Tradition der Zeitzeugengespräche dauerte nicht lange. Aber es hat den Jugendlichen so viel gegeben, diesen Menschen gegenüberzusitzen, ihnen in die Augen zu schauen, sie anzulächeln und angelächelt zu werden. Gewiss, es gibt zahlreiche Filme und große Mengen an Literatur. Doch solange wir die Gelegenheit haben, mit einem Menschen über seine schrecklichen Erlebnisse während der Schoa zu sprechen, so lange sollten wir uns bewusst sein, dass wir privilegiert sind. Und wir sollten auch wissen, dass dieses Privileg nicht für immer andauert.
Der Autor ist Jugendreferent im Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein.