Warum machen wir immer Ausflüge, wenn es regnet?», beklagt sich ein Schüler auf dem Weg zum ehemaligen Bahnhof Grunewald. Jegliche Beschwerde war vergessen, als der Mundharmonikaspieler Marko Jovanic zu Beginn der Gedenkveranstaltung eine traurig-nostalgische Melodie erklingen ließ. Auf dem ganzen Platz kehrte Ruhe ein.
«Unsere Geschichte mahnt uns zu sensiblem Handeln», betonte Hans- Christian Jasch, der diesjährige Vorsitzende der Ständigen Konferenz und Direktor der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, in seiner Eröffnungsrede. In diesem Zusammenhang dankte er den Mitveranstaltern, darunter dem Berliner Senat, der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und der Deutschen Bahn, sowie dem Zeitzeugen Leon «Henry» Schwarzbaum und der Initiatorin der Veranstaltung, der Zeitzeugin Inge Deutschkron.
Leben Berlins Bürgermeister und Innensenator Frank Henkel warnte vor allem davor, die «Menschen hinter den Zahlen» nicht zu vergessen. Von den damals 160.000 Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde Berlins wurden 55.000 von den Nazis ermordet. «Hinter jedem dieser Menschen stehen ein Name und ein Leben, das geliebt wurde», sagte er.
Momente wie diese seien besonders wichtig, da sie «Gedenken lebendig machen». Er freue sich zudem, dass die Stadt, in der einst der Terror des Nazi-Regimes geplant wurde, heute wieder Magnet jüdischen Lebens geworden sei. Berlins Weltoffenheit biete keinen Platz für Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, fügte er hinzu und betonte: «Der Berliner Senat spricht sich nach wie vor und sehr nachdrücklich für ein Verbot der NPD aus.»
zeitzeugen Auch der Vizepräsident des Zentralrats der Juden, Mark Dainow, mahnte, nicht zu vergessen – auch wenn das Geschehene immer weiter in die Vergangenheit rücke. Er rief dazu auf, besonders mithilfe der Medien die Erinnerungen an die Erlebnisse der Zeitzeugen zu erhalten und sich in Form von direkten Begegnungen intensiv mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen.
Dass hinter jeder Zahl ein Name steht, verdeutlichten die Schüler des Hermann-Ehlers-Gymnasiums aus Berlin-Steglitz. Im Rahmen der «Archiv AG» hatten sie die Schicksale von elf ehemaligen jüdischen Schülern ihrer Schule zusammengetragen. Ihnen sei durch die Nachforschungen bewusst geworden, wie unfair jüdische Schüler während des Dritten Reichs behandelt wurden – angefangen bei Vermerken wie «Der Schüler ist kein Arier» in Schülerakten bis hin zu ungerechtfertigt schlechten Benotungen. Abschließend sagte einer der Schüler: «Ich fühle mich, als hätte ich dich tatsächlich gekannt.»
Erinnern Der Zeitzeuge Leon «Henry» Schwarzbaum erzählte von seinen persönlichen Erfahrungen während des Holocaust. Zwei Wochen vor seiner Deportation im September 1943 aus dem Ghetto Bendzin war bereits seine Familie nach Auschwitz abtransportiert und ermordet worden. Im KZ meldete er sich beim Lagerältesten als «Läufer», denn: «Der Mann, der die Nummer auf meinen Arm tätowierte, sagte mir, dass ich eine Funktion brauchte, wenn ich überleben wollte». Nach der Zeit im KZ und zwei Todesmärschen wurde Schwarzbaum im Mai 1945 endlich befreit. «Was bleibt nach diesen schrecklichen Erfahrungen, nach Jahren der Trauer?», fragte er und gab selbst die Antwort darauf: «Erinnern! Wir sind es den Toten schuldig, nicht zu vergessen, was geschah. Antisemitismus, Rassismus und Fremdenhass dürfen nie wieder zurückkehren.»
Zum Abschluss der Veranstaltung sprach Rabbiner Daniel Alter das Kaddisch. Die Redner, Schüler und Gäste legten zum Gedenken an die Opfer weiße Rosen auf den Bahnsteig, von dem die Berliner Juden in die Vernichtungslager deportiert wurden.
Das Mahnmal «Gleis 17» erinnert an den Beginn der Deportation der Juden aus Berlin. Am 18. Oktober 1941 wurden 1013 jüdische Kinder, Frauen und Männer erstmals vom Bahnhof Grunewald ins Ghetto Litzmannstadt abtransportiert.