Der Wunsch »Besinnliche Chanukka« bedeutet unter anderem, sich darauf zu besinnen, dass wir Juden eine Minderheit sind, die sich stets behaupten konnte – und es weiterhin tut. Wenn nun das Bild allerorten von Weihnachtsdeko bestimmt wird und die Besinnung auf Chanukka zu erdrücken droht, geht es uns, frei nach Erich Mühsam, so: Wir feiern lieber Chanukka!
Aber nicht die Weihnachtsdeko allein ist es, die das Bild bestimmt. Wir begegnen dieser Tage in den Innenstädten noch mehr Bettlern als sonst. Selbst zu Hause sind wir nicht sicher vor Aufrufen: eine Spendengala nach der anderen im Fernsehen, Briefkästen quellen mit Bettelbriefen über. »Wohltätigkeit« hat in diesen Tagen Hochkonjunktur.
Und manche geben jetzt »von ganzem Herzen«, tun etwas in Sammelbüchsen, werfen ein paar Münzen in den Hut. Viele Deutsche spenden lieber großen Organisationen wie der Caritas, deren Name mit Nächstenliebe übersetzt werden könnte, oder Misereor, was Mitleid fühlen oder sich erbarmen bedeutet.
mizwa Spenden als freiwilliger Akt der Nächstenliebe und des Mitleids? Kein Zweifel, auch das ist ein guter Weg. Im Judentum kommt noch etwas hinzu: Geben ist Pflicht, Wohltätigkeit ein Gebot der Gerechtigkeit. Wir sprechen daher von Zedaka, dem hebräischen Wort für beides: Wohltätigkeit und Gerechtigkeit. Zedaka ist als Mizwa befohlen, und wie alle Gebote ist deren Ausführung ein Akt der Heiligkeit. Die Pflicht des Gebens gilt als erfüllt, unabhängig davon, ob auch das Herz mit dabei ist.
Darauf hat schon der mittelalterliche jüdische Philosoph und Arzt Moses Maimonides, der Rambam, hingewiesen. In seiner Schrift Mischne Torah hat er wertvolle Hinweise dafür gegeben, wie die Mizwa der Zedaka zu erfüllen ist, und auch, welche Kraft zur Verbesserung der Welt, Tikkun Olam, darin steckt.
Letztendlich geht es um das Potenzial einer Gesellschaft, Armut nicht nur zu bekämpfen, sondern zu verhindern und Gerechtigkeit für alle zu erreichen und zu erhalten.
verbotsparagraf Diese wertvollen Hinweise wurden verfasst, als in weiten Teilen Europas das Betteln verboten war. Erst 1974 (!) wurde in Deutschland juristisch das Betteln grundsätzlich erlaubt. Als der entsprechende Verbotsparagraf im Strafgesetzbuch fiel, blieben Ausnahmen, etwa das »aggressive Betteln« oder das Betteln in Begleitung von Kindern – wobei Kindern unter 14 Jahren das Bitten um Almosen gänzlich untersagt bleibt.
Ein Beispiel liefert das seit hanseatischen Zeiten geltende Bremer Ortsgesetz: »Soweit Personen bedrängt, festgehalten oder berührt werden«, wird aus Bettelei Nötigung – und ist damit strafbar. Viele Kommunen haben außerdem der organisierten Form sowie »Betteln unter Vortäuschen körperlicher Behinderungen« den Kampf angesagt. Im Amtsdeutsch mancher Verfügung ist »stilles Demutsbetteln« geboten.
Auch immer mehr organisierte Gruppen bettelnder Menschen scheinen nicht das eigentliche Anliegen des Bettelns zu verfolgen, die Linderung einer akuten Notlage.
einkaufsmeile Bettler aber gehören zum Bild der Städte, wie jeder weiß. Sie lösen möglicherweise Unmut bei einigen Bürgern aus, weil sie die Armut sichtbar machen, die man sonst bequem übersehen kann. Not tritt vor die eigenen Augen und für einen Moment ins eigene Leben. Ob in der Einkaufsmeile, der U-Bahn oder sonst wo in der Öffentlichkeit.
Und wie und was gegeben wird, das ist auch angesichts wachsender Konkurrenz auf der Straße ganz unterschiedlich. Vielleicht gibt man einfach dem ersten Bettler etwas, dem man begegnet. Oder es werden bestimmte Leute auf der Straße mit einer Gabe unterstützt, oft nach Sympathie – durchaus menschlich, auch und gerade unter Wahrung emotionaler Distanz. Das ist auch wichtig für die Menschen, die auf der Straße hocken und deren Würde dort mit ihnen hockt. Dann ist es gut, sich anrühren zu lassen, unverhärtet und frei zu bleiben, um nach Situation und Gefühl zu entscheiden – und ohne schlechtes Gewissen auch mal Nein zu sagen. Die Unsicherheit, ob die Hilfe wirklich sinnvoll ist, lässt sich nie ganz ausräumen. Ob Betteln verboten ist oder nicht, Geben ist erlaubt.
barmherzigkeit Für Kölns Erzbischof Rainer Maria Woelki kann jeder Euro im Pappbecher ein Zeichen der Zuwendung sein. Aber damit sei das Thema nicht abgehakt, meinte er kürzlich: »Almosen allein verändern die Lebenssituation nicht dauerhaft … wirkliche Barmherzigkeit will dem Menschen an der Wurzel helfen: im Moment und darüber hinaus.«
Da steht der Bischof mit Rambam im Einklang: Wahre Hilfe ist solche, die einen nachhaltigen Weg aus der Abhängigkeit bietet. Rambam betont allerdings, dass diese Barmherzigkeit nicht nur dem Empfänger gilt, sondern auch dem Geber. Durch Zedaka werden beide in ihrer Würde erhöht – Stufe um Stufe.
Es beginnt, laut Rambam, mit dem Geben von Zedaka ohne Herz; eine höhere Stufe ist erreicht, wenn das Herz dabei ist. Aber auf jeden Fall gilt: Bittender und Gebender brauchen einander. Beide erfahren durch den Akt der Zedaka eine Transformation. Der Geber ist also auch Nehmer – und umgekehrt. Wohltätigkeit bewirkt Gerechtigkeit. Zedaka eben.
Der Autor ist Rabbiner der Budge-Stiftung in Frankfurt/Main.