Brighton Beach im November: Die Sonne scheint, der Atlantik schickt immer neue grüne Wellen von Europa her, die sanft am Sandstrand unterhalb von Brooklyn verenden, und alles spricht Russisch. Die beiden alten Frauen auf der Parkbank zum Beispiel, die eine ganz in Rosa, die andere in Schwarz gekleidet. Sie haben Einkaufstüten dabei und gestikulieren heftig. Oder die beiden alten Männer ein paar Hundert Meter weiter, beide tragen altmodische Schiebermützen und scheinen sich über irgendetwas zu streiten. Vielleicht sagt der mit dem Schnurrbart: »Was für eine Schweinerei, was für Verbrecher. 42 Millionen Dollar!« Und womöglich ist sein Gesprächspartner gar kein Jude, sondern Antisemit und kommentiert: »Ihr verdamm- ten Itzigs seid Gauner, allesamt – sogar noch aus dem Holocaust schlagt ihr Geld.« Vielleicht reden die beiden aber auch nur übers Wetter.
Das Herz von Brighton Beach, besser als »Klein-Odessa« oder »Russland am Meer« bekannt, ist die gleichnamige Avenue, die immer im Schatten liegt, auch an diesem strahlenden Herbsttag. Über sie hinweg rattert auf Stelzen alle zehn Minuten der Q-Train in Richtung Manhattan. Hier ist es gut, wenn man ein bisschen Kyrillisch lesen kann, denn englische Ladenschilder sind in den Geschäften links und rechts der Straße rar gesät: »Apteka«, buchstabiert der Flaneur im Vorübergehen und »Advokat«. In den Lebensmittelläden liegt eine tolle Mischung aus Tvorog, russischem Hüttenkäse aus Pennsylvania, sauren Aprikosen aus Usbekistan, Kwas, einer Art Brotgetränk direkt aus Moskau, und Halva aus Israel. Ob die nette Frau, die dem Fremden hilft, seinen Lieblingskaffee aufzutreiben, schon von dem Skandal der Jewish Claims Conference gehört hat, und was sie wohl dazu denkt? »Njet«, sagt sie, »ich kümmere mich nicht um so was.« Ist ihr Lächeln eine winzige Spur blasser geworden? »Hier ist Ihr Kaffee. Drei Dollar 80.«
Ein paar Schritte weiter hat ein Zeitschriftenhändler seinen Stand aufgeschlagen, fast alle Blätter sind in kyrillischer Schrift. In einem von ihnen haben die Betrüger jene Anzeigen aufgegeben, mit denen sie nach russischsprachigen Juden suchten, die dann mit gefälschten Überlebensgeschichten ausgestattet wurden, damit sie bei der Claims absahnen konnten.
Ja, Brighton Beach ist eine Parallelgesellschaft. Hier unten am Fuß von Brooklyn kommt man an keine Wohnung, wenn man nicht dazugehört. Die Russen bleiben genauso unter sich wie die Chinesen drüben in Chinatown oder die Chassiden in Williamsburg. Und daran ist auch nichts verkehrt, so lange sich alle – wenigstens ungefähr – an die Gesetze des Landes halten.
Am Dienstag vergangener Woche wurde die vermeintliche Beschaulichkeit des russischen Einwandererviertels jäh durchbrochen. Am frühen Vormittag rückten Einheiten des FBI mit Blaulicht an, Bundespolizisten klopften laut an Türen und streckten elf überraschten Bewohnern Haftbefehle entgegen.
Nach der Razzia macht sich Zorn auf die Übeltäter breit. Die Nachbarschaftsvereinigung, die gewöhnlich auf seriöse Art den Anwohnern beim Ausfüllen ihrer Ansprüche an die Claims Conference hilft, hängt in großen Lettern die Namen der Angeklagten in ihr Schaufenster. »Wegen dieser Idioten werden die Leute mit legitimen Ansprüchen nun für die nächsten 100 Jahre schief angeschaut«, schimpft Pat Singer, die Chefin der Vereinigung. Kritiker der »Holocaust-Industrie« wie Norman Finkelstein dürften sich über diesen Vorfall die Hände reiben.
Ein paar Straßen weiter, im Obergeschoss von »International Foods«, kann man für eigentlich gar kein Geld Pelmeni oder Golubzi mit Smetana essen. Die Portionen werden einzeln abgeworgen, und der Gast zahlt nach Gewicht. Es ist warm genug, dass man mit seinem Tablett auf die Dachterrasse gehen kann. Dort sind zwei rauchende junge Männer in ein Gespräch vertieft. Haben sie schon von dem Skandal gehört? »Nein«, sagt der eine. »Klar«, sagt der andere und schnippt Asche von seinem Glimmstengel in einen Blechbecher. »Aber wen interessiert so was?« Der Erste: »Wie sind die Kohlrouladen? Gut? Dann hole ich mir auch ein paar.«