Sigmar Gabriel ist tatsächlich gekommen. Steht da in seiner soliden, gesteppten Winterjacke. Der SPD-Chef will sich informieren, will mit den Anwohnern reden, klären, warum es hier im niedersächsischen Sandbostel, einem Ort in der Nähe von Bremervörde, gerade so viel Zwist gibt. Neben ihm der einstige Hamburger Unternehmer Ivar Buterfas und seine Frau Dagmar, beide Überlebende der Schoa. Vor ihnen erstreckt sich das Gelände des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers Stalag X-B, das hier von 1939 bis 1945 bestand. Im April 1945 war es zudem Auffanglager für 8.000 Häftlinge aus dem nahe gelegenen Konzentrationslager Neuengamme. 3.000 von ihnen haben Sandbostel nicht überlebt.
denkmal Jetzt will eine Gedenkstätte genau daran erinnern. Bislang befindet sie sich noch im Aufbau. Ihr gehören gerade mal zehn Prozent des Geländes, das 30 Hektar umfasst. Der große Rest steht zwar offiziell unter Denkmalschutz – doch offenbar bedeutet das nicht viel. Denn dort, wo einst der Appellplatz des Lagers war, erhebt sich jetzt ein Einfamilienhaus, deklariert als Betriebsleiterwohnung einer benachbarten Holzhandlung. Ein schmuckes Häuschen inmitten eines von Leid und Tod getränkten Areals – verträgt sich das?
Ivar Buterfas spricht den Besitzer an: »Sie haben eine Baugenehmigung bekommen, also hatten Sie alles Recht der Welt zu bauen. Doch moralisch gesehen, ist das nicht in Ordnung: Was, wenn Ihr Haus auf den Knochen ermordeter Juden errichtet wurde?« Den Besitzer und seine Nachbarn lässt das kalt: Lägen in Deutschland nicht überall Knochen in der Erde? Könnte man dann überhaupt irgendwo bauen? Die Stimmung ist aufgeheizt, der Ton bald rau.
enthüllungen Unklar ist, wer die Baugenehmigung erteilt hat: Die örtliche Politik schiebt es auf die kommunale Verwaltung; die Verwaltung schiebt es auf die Politik. Dazu will das Gerücht nicht verstummen, im Landkreis verwurzelte Minister der letzten Landesregierung hätten eines Abends beim Bier die Sache abgeseg- net. Unbestritten ist, dass die archäologische Abteilung des Kreises Rotenburg, zu dem Sandbostel gehört, nicht aufs Gelände geschickt wurde, um zu prüfen, was womöglich im Boden liegt – eine mindestens peinliche Unterlassung. Dementsprechend sind sich die politischen und kommunalen Vertreter sicher, dass die Archäologen sowieso nichts gefunden hätten.
Gewiss ist wiederum, dass das Denkmalschutzamt sowohl vor Ort wie in der Landeshauptstadt Hannover entschieden gegen die Herausnahme des Geländes aus seiner Zuständigkeit und damit gegen die Bebauung votiert hat. Reiner Zittlau, Hannovers oberster Denkmalschützer, formuliert es so: »Die Entscheidungen, die die Politik trifft, sind eben manchmal andere, als die, die Fachleute vor Ort treffen würden.« Und er kann sich eine Bemerkung nicht verkneifen: »Es ist schon nicht uninteressant, dass man sich hier für einen einzelnen Grundstücksbesitzer entschieden hat – und nicht für die Mannschaft, die dort eine Gedenkstätte gestalten möchte.«
Diese Mannschaft tritt 1992 an, um die Geschichte des Lagers zu erforschen, zu dokumentieren. Und stößt auf wenig Gegenliebe. Lange dümpelt der damals gegründete Gedenkstättenverein vor sich hin. Bis 2003 Ivar Buterfas eingeladen wird, sich mal in Sandbostel umzusehen. Er ist entsetzt über den Zustand der einstigen Lagerbaracken, in denen Schafe untergebracht sind und Militaria lagern. Und er setzt, wie es so seine Art ist, alle Hebel in Bewegung: klopft parteiübergreifend in Hannover sowohl bei Christian Wulff als auch bei Sigmar Gabriel an; informiert die Konsuln aller Länder, aus denen die Kriegsgefangenen, Internierten und KZ-Häftlinge seinerzeit stammten.
Und hat Erfolg: Geld wird bereitgestellt, um wenigstens den Zerfall der Gebäude zu stoppen und eine erste Wanderausstellung zu konzipieren. Bald wird in renovierten Räumen ein Büro eingerichtet. Vor Kurzem sind 1,4 Millionen Euro hinzugekommen, um weitere Baracken vor dem Zerfall zu retten und vor allem, um die Gedenkstätte auch auf solide wissenschaftliche Beine zu stellen. Bald beginnen drei Historiker vor Ort mit ihrer Forschungsarbeit.
Schweigen Klaus Volland, Vorsitzender des Sandbosteler Gedenkstättenvereins, sieht damit die Chance, dass in Zukunft weniger allein Emotionen als vielmehr wissenschaftliche Fakten sprechen werden. Ihm wird aber auch gerade deshalb ein wenig mulmig zumute: »Wenn unsere Wissenschaftler loslegen, wird natürlich auch die Nachkriegsgeschichte des Lagers zur Sprache kommen.« Dann wird benannt werden können, wer damals aus welchen Gründen dafür gesorgt hat, dass über die Geschichte des Lagers sogleich der Mantel des Schweigens gedeckt wurde.
Genau das interessiert manchen Sandbosteler herzlich wenig. Es muss doch irgendwann mal Schluss sein! Es kann doch nun nicht auf ewig in der Vergangenheit herumgewühlt werden. Und hat es je eine Gedenkstätte für die deutschen Vertriebenen gegeben? So und ähnlich hört es sich bei den Gesprächen an diesem Nachmittag an, ungeachtet dessen, wie sehr Sigmar Gabriel bemüht ist, sich mit kräftiger Stimme Gehör zu verschaffen. Immer wieder fordert er die Anwesenden auf, sachlich miteinander zu reden.
Tierfreunde »Herr Buterfas«, ruft ein älterer Herr in Bauernjoppe dazwischen, »am besten, Sie verschwinden hier für immer!« Und der Besitzer des Hundehofes, der sich der Holzhand- lung direkt anschließt, hat schon eine Idee, was passieren wird, sollte Buterfas keine Ruhe ge- ben: »Ein paar E-Mails an andere Tierfreunde, und am nächsten Jahrestag der Lagerbefreiung findet hier ein bundesweites Vierbeinertreffen statt.« Da ist selbst ein hartgesottener Politprofi wie Sigmar Gabriel einen Moment lang sprachlos.
»Sandbostel ist aber auch eine harte Nuss«, sagt Rolf Keller, Leiter der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. »Das Problem ist, dass man gedacht hat, wir konservieren erst einmal alles, was wir hier an Gebäuden haben – und schauen dann Stück für Stück weiter, bis irgendwann das ganze Gelände Gedenkstätte wird. Da ist so ein Neubau natürlich ein Schritt zurück und weckt die Befürchtung, dass es nicht bei einem bleibt.«
Doch das bedeutet nicht, dass das letzte Wort schon gesprochen ist: »Wenn besonders die Politik vor Ort sich entschließt, eine Gedenkstätte zu unterstützen, gibt es bald keine Diskussionen mehr. Aber es dauert eben lange, bis sich auch auf kommunaler Ebene das Verständnis durchsetzt, dass Erinnerungsarbeit wichtig ist.«
Entwicklungspotenzial Auch die Bevölkerung im südniedersächsischen Moringen hatte anfangs massive Vorbehalte, sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. In der Stadt hatte es nacheinander drei Konzentrationslager gegeben. Darunter ein Frauenlager, in dem Roma- sowie Sinti-Frauen und Jüdinnen interniert waren, bevor man sie nach Auschwitz deportierte. Aufgrund der lokalen Proteste war es dem Verein »Emslandlager« lange Zeit nicht gelungen, auf dem eigentlichen Gelände an der Ems einen Gedenkort zu errichten. In den Gebäuden waren psychisch erkrankte Straftäter untergebracht.
So musste man auf die Stadt Papenburg ausweichen. Nun soll die Erinnerungsstätte von dort wieder auf das ehemalige Lagergelände umziehen. Seitdem der örtliche Landrat dieses Vorhaben unterstützt, überlegen das Landeskrankenhaus, die Stadt und der Verein, wie vor Ort eine Gedenkstätte errichtet werden kann. Diese Entwicklung macht deutlich, dass es durchaus möglich ist, einmal getroffene Entscheidungen wieder rückgängig zu machen. So wie in Sandbostel das Fundament aller Verdrängung gefestigt wurde, als die Gemeinde Mitte der 70er-Jahre das Lagergelände als Gewerbegebiet auswies und sich entsprechend Betriebe ansiedelten, für die Denkmalschutz und die Ausgestaltung eines Gedenkortes eben nachrangig sind.
Entschlusskraft Doch gibt es auch in Sandbostel durchaus eine andere Form des Umgangs mit Geschichte, wie sich am Beispiel des heute 75-jährigen Landwirts Johann Dücker zeigt. Der musste als Neunjähriger mit ansehen, wie auf einem Feld, das zum Hof seines Vaters gehörte, zwei KZ-Häftlinge auf dem Weg nach Sandbostel zu entkommen suchten – und SS-Leute sie erschossen. Die Leichen wurden an Ort und Stelle verscharrt. Dücker hat die Erinnerung an dieses Erlebnis nie losgelassen: »Ich kann bis heute nicht verstehen, dass ein Kopfnicken genügte, und ein Karabiner wurde durchgeladen.«
An der Stelle, an der die Morde geschahen, gibt es auf seine Initiative hin heute einen Gedenkstein neben zwei Rastbänken. Johann Dücker möchte, dass man sich hier hinsetzt, auf die schöne Sandbosteler Heide und in den imposanten Himmel blickt – und der beiden namenlosen Opfer gedenkt. »Bevor ich die Augen schließe, wollte ich etwas hinterlassen, damit nicht vergessen wird, was geschehen ist.« Vielleicht macht sein Beispiel eines Tages Schule in Sandbostel.