Zum Fall Grass ist alles gesagt. Gleichwohl ist eine letzte Bemerkung zu der Frage, ob der Literaturnobelpreisträger ein Antisemit ist, erforderlich. Er ist das gewiss nicht in der Weise, dass er alle Juden für geldgierig hält; kaum auch würde er sich daran stören, mit ihnen in einem Haus zu wohnen.
Allerdings: Es gehört zu den anerkannten, harten Kriterien für die Beurteilung einer Äußerung als »antisemitisch«, ob Juden als Juden dämonisiert werden. Das ist bei Grass eindeutig der Fall: Behauptet er doch zu Beginn seines Gedichts, dass der mögliche »Erstschlag« des jüdischen Staates das »iranische Volk auslöschen könnte«, um dann Ross und Reiter, nämlich die »Atommacht Israel«, die den »ohnehin brüchigen Weltfrieden gefährdet«, zu nennen.
Die später erfolgte Korrektur dieser grundfalschen Annahme im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung (SZ) macht nichts besser: Auch die jetzt anstatt »Israel« beschuldigte »Regierung Netanjahu« will das iranische Volk nicht auslöschen, während der von Grass angestellte Vergleich eines möglichen Bombenangriffs mit der Havarie von Fukushima schlicht von der fachlichen Inkompetenz eines das Weltgeschehen nur noch oberflächlich zur Kenntnis nehmenden Eigenbrötlers zeugt.
Motive Bei judenfeindlichen Stimmungen überlagern sich Motive, Schichten eines kollektiven Unbewussten und offene Interessen. Der israelische Gesandte Emmanuel Nahshon hatte daher völlig recht, als er auf die langen Zyklen der christlichen Zivilisation hinwies. Die Osterzeit führte seit der späten Antike immer wieder zu Ausbrüchen von Judenhass. Zudem: Seit dem Mittelalter gehören Juden in Zeiten apokalyptischer Ängste – und Grass ist Apokalyptiker – zur Innenausstattung eines jeden Weltuntergangpanoramas.
Ein weiteres, historisch näherliegendes, ebenso tief sitzendes Motiv dürfte das bei einem Teil der älteren deutschen Bevölkerung unverarbeitete und wohl unverarbeitbare Mittun im NS-Staat sein. Dieser Personengruppe verleiht der Nobelpreisträger seine erlösende Stimme. Indes: Antisemitische Stimmungen unterliegen nicht nur tief sitzenden Rhythmen oder Traumata, sondern auch konjunkturellen Einflüssen.
Die SZ publizierte Grass’ Gedicht am 4. April; vier Tage vorher erschien ebenfalls dort eine halbseitige Anzeige »aus Friedensbewegung und der Friedensforschung«, in der sich 1.767 Personen für ein Ende der Sanktionen gegen Iran einsetzten. Ebenso wenig wie Grass hielten sie es für nötig, die iranischen Vernichtungsdrohungen gegen Israel auch nur zu erwähnen. Die Anzeige warnt davor, dass militaristische Strömungen der Islamischen Republik die Sanktionen zum Vorwand nehmen könnten, die Straße von Hormus zu schließen.
Gedicht Es bedurfte der Intuition zweier Karikaturisten, um den Kern der Angelegenheit auf den Begriff, genauer, ins Bild zu bringen. Greser & Lenz kommentierten das Ganze unter dem Titel »Was Deutschland bewegt« am 7. April in der FAZ mit einer Zeichnung, auf der ein grimmig aussehender Dichter einen »Literaturpreis der Stadt Rüsselsheim« erhält, derweil eine schwachsinnig lächelnde Laudatorin erklärt: »Den diesjährigen Benzinpreis erhält Günter Grass für sein kritisches Gedicht ›Was gesagt werden muss, II‹: Gern ließ ich mir Gefühle wecken, Mit Vollgas auf den Bretterstrecken, Jetzt schwimmen Multis in meim Geld, Ade du schöne Autowelt.«
Trafen Grass und die Personen »aus der Friedensbewegung« also die Stimmung der Bevölkerung? Auf den ersten Blick jedenfalls nicht. Ergab doch eine im September 2011 erhobene Studie aus Allensbach, dass die Deutschen vor vielem Angst haben – ein Weltkrieg um Israel/Iran jedenfalls gehörte nicht dazu. Die meisten, 44 Prozent, ängstigten sich vor einer Inflation. Genau hier setzte die Kampagne der Friedensfreunde an.
Nachdem Griechenland und der Euro gerettet scheinen, ein Bundespräsident gewählt, ein Nachtflugverbot verhängt und die registrierte Arbeitslosigkeit einen Tiefstand erreicht hat, bereitet jetzt die Verteuerung des Benzins Sorge. Nicht zufällig beherrschten vor und während der Affäre Grass preistreibende Ölkonzerne die Schlagzeilen.
Syrien Es ist durchaus möglich, dass eine Sperrung der Straße von Hormus diesen Trend verstärkt. Steigende Ölpreise aber stellen ein ernsthaftes Risiko für die deutsche Volkswirtschaft dar, anders als die bisher 9.000 Opfer des Gewaltregimes von Assad. Die jedoch sind – da Syrien über keine Ölvorräte, sondern nur über eines der größten Arsenale chemischer Massenvernichtungswaffen verfügt – konjunkturneutral und lösen deshalb auch keinen Protest irgendeiner Friedensbewegung aus.
Betrachtet man diese Überlagerung von religiösen Zyklen, nationalen Traumata und materiellen Motiven, so drängt sich die Vermutung auf, dass es bei all dem darum ging, ein Thema auf der politischen Tagesordnung zu platzieren – im Medienjargon »agenda setting« genannt. Wähnten einige der sogenannten Friedensaktivisten, das Nachbeben von Fukushima für eine Änderung der israelfreundlichen deutschen Politik nutzen zu können?
Der Autor ist Professor für Erziehungswissenschaft und Publizist.