Wir sind ja wieder einmal selbst schuld. Schließlich war es eine jüdische Familie, die unterwegs war: die Frau hochschwanger, bekommt ihren Sohn bei Ochs und Esel. Der Rest ist bekannt, auch wenn viele Familien in unserer Zeit eher aus dem Vollen schöpfen können als Maria, Josef und ihr Kind in der armseligen Herberge. Weihnachtszeit bedeutet heute Geschenkeberge und Unmengen von Essen bis zum Abwinken. Danach, wenn die Hosen zwischen den Jahren nicht mehr passen: ein bisschen weniger essen – und an Silvester Knaller krachen lassen.
Und wir Juden? Wir machen das umgekehrt: Zunächst feiern wir das Neujahr, danach verbringen wir zehn Tage mit Büßen und Beten, dann schieben wir einen Fastentag ein. Danach essen und feiern wir noch fast zwei Wochen durch, bis nach Simchat Tora. Unsere noch-nicht-jüdischen oder nicht-mehr-jüdischen Nachbarn (beziehungsweise »Mitbürger«, wie man das so schön nennt) dagegen beginnen mit einem »Abend der Besinnung«, danach Bescherung und Geschenke und Essen und Feiern; und dann einige Tage, in denen man die kalten Überreste (Gans, Ente und Stollen) aufessen kann. Inzwischen ist ein toter Baum total vertrocknet, die Nadeln verteilen sich auf Mutterns gutem Teppich – wie unsere Lulawim an Hoschana Raba, nur dass es bei unseren Mitbürgern Nadeln statt Blätter sind.
schwiegereltern Während all dieser Hullaballoo-Tage sitzen Juden herum und fragen sich: »Was sollen wir tun?« Natürlich leben viele heute in gemischten Familien und müssen die Feierlichkeiten bei Schwiegereltern und anderen Anverwandten durchstehen.
Jedenfalls hat die Weihnachtszeit ihre Schatten weit vorausgeworfen. Schon seit Anfang November ist nichts mehr normal, und bis Januar geht das so weiter. Ständig werden während der Arbeit feierliche Essen in teuren Lokalen und peinliche Partys im Büro geplant. In den Schulen dreht sich alles nur um Amateurtheater und Chorkonzerte. Die Reisebüros sind voll. Dann werden auch noch die Fahrpläne geändert. Überall dröhnt schlechte Musik aus versteckten Lautsprechern über rotnasige Opas mit Rentieren. Man sehnt sich nach Schnee – bis er kommt – und trinkt Glühwein gegen die Kälte, obwohl man auch noch in der Kälte stehen muss, um ihn zu kaufen und zu konsumieren.
Viele Betriebe funktionieren kaum, weil ihre Angestellten »Brückentage« nehmen, um der Arbeit so weit wie möglich zu entfliehen. Operationen, Termine und Dienstreisen werden bis »nach den Feiertagen« verschoben. Die Kinder haben schulfrei (auch an jüdischen Schulen), obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gibt, hängen zu Hause herum und quälen sich mit den gestressten Eltern. Und die Eltern freuen sich auf Anfang Januar, wenn sie sich nicht mehr mit den gelangweilten Gören herumschlagen müssen.
fernsehen Merry Christmas! Happy New Year! Und im Fernsehen ist auch nix los. Gezeigt werden die gleichen alten Filme wie im vergangenen und vorletzten Jahr; und das heißt dann »Tradition«. Ein Lichtblick für uns Juden: In England tagt gerade in dieser Woche die Limmud-Konferenz. Auch anderenorts gibt es bestimmt Lernangebote. Damit können sich zumindest einige Juden von der Außenwelt isolieren und mit jüdischen Themen beschäftigen. Das finde ich gut.
Ansonsten hat man endlich auch mehr Zeit für die »anderen« Dinge – schließlich müssen wir uns nicht um Synagogenkarten bemühen (die Kirchen sollen ja angeblich an diesen Tagen voll sein), ein festliches Fastenbrechen organisieren, Arba Minim kaufen oder eine Sukka bauen und schmücken: Ha, diesmal haben wir frei und sind nur neutrale Beobachter, während die anderen sich hysterisch und überfordert mit Konsumrausch und ihrer Panik herumschlagen müssen. Wir haben als Juden echte Feiertage: freie Tage, weil »wir« nichts tun müssen.
zeit Wir haben Zeit für uns, Zeit für die Familie. Statt wie an Rosch Haschana in die ferne Zukunft zu schauen, haben wir jetzt Zeit für eine Flasche Wein und die Fernbedienung. Zeit für einen Spaziergang in der frischen, fast autofreien Luft. Zeit, um Verwandte zu besuchen – oder, wenn absolut nötig, die Verwandten einzuladen. (Tja, das muss auch sein.) Die Geschäfte sind zu, die Schulen geschlossen, die Büros verwaist. Strandwetter ist auch nicht – also können wir einige Tage mit reinem Gewissen von der Arbeit freinehmen, genau wie alle anderen.
Doch so viele Ablenkungen wie in anderen Jahren gibt es dieses Mal gar nicht: Der erste Weihnachtstag fällt auf einen Freitag, am zweiten Weihnachtstag ist Schabbat, und wir können in die Synagoge gehen, genauso wie am Freitag, den 1. Januar. Und natürlich freue ich mich, wenn Sie an diesem Tag erscheinen! Bis zum Kiddusch haben Sie Ihren Silvesterkater, falls so etwas bei Ihnen vorkommen sollte, bestimmt überwunden. In diesem Sinne: Schabbat Schalom und Schana Towa!
Der Autor ist Rabbiner der liberalen Gemeinde »Or Chadasch« in Wien.