Redezeit

»Freitags bin ich auf Reset«

Marina Weisband Foto: Bastian Bringenberg

Frau Weisband, als Konsequenz aus den Morden der Zwickauer Neonazi-Zelle wird zurzeit mehr denn je über ein erneutes NPD-Verbotsverfahren diskutiert. Wie stehen Sie zu einem Verbot der Nazipartei?
Ich muss an erster Stelle sagen, dass ich nicht für die Piratenpartei sprechen kann und darf, weil wir in dieser Frage noch keinen Beschluss gefasst haben. Als Privatperson finde ich es natürlich unerträglich, dass die NPD trotz ihrer zum Teil offen artikulierten verfassungsfeindlichen Aussagen vom Staat durch die Parteien-finanzierung unterstützt wird. Trotzdem bleiben Zweifel an der Richtigkeit eines Verbotsverfahrens, weil durch ein Verbot der NPD das Nazi-Problem nicht ursächlich, sondern allenfalls symptomatisch gelöst werden würde.

Der Versuch, die NPD zu verbieten, schließt doch aber die parallele Bekämpfung ihrer Ideologie nicht aus.
Das ist richtig, doch ich fürchte, dass die Folgen eines NPD-Verbots äußerst schwer zu kontrollieren wären, weil die Nazis dann ganz einfach Unterschlupf bei anderen Parteien suchen würden. Sie würden vermutlich dort versuchen, ihre politischen Vorstellungen zu realisieren. Die NPD kann man sehr gut bekämpfen, indem man sie schlicht und einfach nicht wählt. Das halte ich für die beste Alternative.

Die Wirklichkeit in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern, in denen die NPD im Landtag sitzt, ist jedoch eine gänzlich andere.
Deshalb müssen wir unabhängig von einem möglichen Verbots-verfahren vor allem auch das fatale Denken der NPD bekämpfen. Die Frage ist doch, ob es leichter fällt, ein Denken zu bekämpfen, das an eine zugelassene Partei gebunden ist, oder ob es nicht vielleicht Erfolg versprechender wäre, das Problem an der Wurzel zu packen, also in den Köpfen derjenigen, die an die Nazi-Propaganda glauben.

Haben Sie eine abschließende Antwort gefunden, was Erfolg versprechender wäre?
Ich befinde mich noch im Status der Analyse. Vor- und Nachteile müssen bei diesem äußerst wichtigen Thema sehr genau gegeneinander abgewogen werden. Fest steht aber, dass ich die NPD für absolut bekämpfenswert halte. Ich weiß eben nur noch nicht, welche Mittel dafür am besten geeignet sind. Eine offizielle Anerkennung dieser nazistischen Ideologie als eine rechtmäßige ist im jeden Fall ein Zustand, der unhaltbar ist – wir wissen schließlich nicht erst seit den Morden von Zwickau, dass die NPD die Grundlage für solche Taten legt.

Hat sich der Verfassungsschutz zu lange auf Islamisten und Linksterroristen fokussiert und dabei die Gefahr durch rechten Terrorismus unterschätzt?
Leider ja. Der Verfassungsschutz hat mich unglaublich enttäuscht. Wie kann es sein, dass ein Angehöriger des Verfassungsschutzes bei einem Mord der Zwickauer Terroristen anwesend war? Wie kann es sein, dass ebendieser Mensch in seiner Abteilung als »Kleiner Adolf« bekannt war und keiner etwas gegen ihn unternahm? Das ist ein Skandal! Ich frage mich, wie wir solche Leute beim Verfassungsschutz dulden konnten.

Haben Sie eine Antwort?
Es wird nun zu überprüfen sein, ob beim Verfassungsschutz Personen aktiv sind, die die Ziele der Neonazis teilen. Aber auch die Politik trägt Mitschuld, sie war zu lange blind auf dem rechten Auge. Lange Zeit hat sie die Opferzahlen des rechten Terrorismus als viel zu niedrig angesehen. Erst wenn das Polit-Establishment den rechten Terror als ein echtes Problem ansieht, kann man ihn wirksam bekämpfen.

Ist das Eintreten der etablierten Parteien gegen Rechts Ihrer Ansicht nach nur ein Lippenbekenntnis?
Nun, es wird viel an der Bekämpfung der rechten Ideologie gearbeitet. Gleichzeitig aber nähren zum Beispiel in der SPD Leute wie Thilo Sarrazin den Rechtspopulismus in der Bundesrepublik, indem sie Islamfeindlichkeit schüren. Ich glaube, die Zwickauer Terrorzelle wird nicht nur von solchen Leuten wie dem »Kleinen Adolf« gedeckt, sondern im weitesten Sinne auch von Politikern wie Bundesfamilienministerin Kristina Schröder, die sagt, es gebe hierzulande eine flächendeckende Deutschenfeindlichkeit und einen breiten organisierten Linksextremismus. Rechts-extremistische Taten dagegen seien bloß Einzelfälle.

In den vergangenen beiden Jahren wurde bekannt, dass bei den Piraten ehemalige NPD-Mitglieder aktiv sind. Ist Ihre Partei inzwischen frei von Ex-NPD-Sympathisanten?
Nein, das glaube ich nicht. Ich gehe davon aus, dass bei uns noch ein paar ehemalige NPD-Leute als einfache Mitglieder mit dabei sind. Wir können und wollen aber nicht jedes unserer Mitglieder überprüfen. Es ist aber so, dass, sobald Mitglieder mit Thesen in Richtung Nazismus auffallen, diese von der Basis sofort extrem verurteilt werden.

Sie bauen auf die Selbstheilungsprozesse der Piraten?
Unbedingt. Ich warte zum Beispiel sehnsüchtigst auf Bodo Thiesens Parteiausschluss. Jeder Pirat weiß, dass er sich in Richtung Rechtsextremismus positiv geäußert hat. Wir sind Demokraten. Jemand mit solchen Einstellungen hat bei uns nichts verloren.

Wie werden Sie in Zukunft mit ehemaligen NPD-Mitgliedern bei den Piraten verfahren?
Nach unseren Erfahrungen mit ehemaligen NPDlern werden wir bei einer Wahl in ein Parteiamt darauf achten, nach der politischen Vergangenheit aller Kandidaten zu fragen. Das heißt wohlgemerkt aber nicht, dass wir jemanden sofort rauswerfen, wenn er zugibt, mit 16 Jahren irgendwo auf dem Dorf in Ostdeutschland in die NPD eingetreten zu sein, wo es keine politischen Alternativen gab. Wenn sich jemand wirklich zur Demokratie bekennt, müssen wir ihn wieder eingliedern in unsere Gesellschaft.

Fühlen Sie sich als Demokratin und nicht zuletzt auch als Jüdin trotz der zahlreichen Verwicklungen von Piraten-Mitgliedern in der NPD und anderen rechten Trends noch in der richtigen Partei?
Und wie! Die Piratenpartei hat kein Antisemitismus-Problem, das wäre mir schnell aufgefallen. Man kann in keiner Partei vollends sicher sein, mit wem man es zu tun hat. Wichtig ist, dass die ehemaligen NPD-Leute in unserer Partei ihrem alten Denken abgeschworen haben. Jeder, der das nicht getan hat, fällt in unserer Partei auf und macht sich unbeliebt.

Die Piratenpartei ist angetreten, die Politik in Deutschland zu revolutionieren. Vielen Bürgern ist jedoch immer noch nicht ganz klar, wofür die Piraten eigentlich stehen. Was ist Ihre zentrale Botschaft?
Wenn ich unsere Grundphilosophie in einem Ansatz zusammenfassen müsste, dann so: Ein Mensch muss frei sein, indem er aufgeklärt und mündig ist. Den Punkt der Aufgeklärtheit wollen wir über Transparenz, Bildung und Informationsfreiheit erreichen. Mündigkeit wollen wir über Bürgerrechte, Partizipation und Demokratisierung realisieren.

Klingt nach einem wörtlichen Zitat aus dem Wahlprogramm der FDP.
Der Unterschied ist, dass die FDP stets Forderungen aufstellt, ohne sie als Regierungspartei in die Tat umzusetzen. Wir treten nicht nur theoretisch für Bürgerrechte und die Freiheit des Menschen ein. Wir haben ein Sozialprogramm, das die FDP zum Kotzen bringen würde. Und im Gegensatz zu den Liberalen, bei denen Freiheit allein auf die Stärkeren angewendet wird, heißt bei uns Freiheit insbesondere auch der Schutz der sozial und materiell Schwächeren.

Die Piraten sind also keine reine »Protestpartei«, wie Frau Merkel es kürzlich ausdrückte?
Nein!

In der Außenwirkung scheint die Piratenpartei mehr oder weniger auf das Thema Internet beschränkt zu sein. Haben Sie Antworten auf die großen Themen unserer Zeit? Wie positioniert sie sich beispielsweise in der Euro-Schuldenkrise?
Wir mussten uns ja schon häufiger dafür rechtfertigen, dass wir dafür bisher keine Lösungsvorschläge haben. Darin unterscheiden wir uns übrigens nicht von den anderen Parteien. Von denen weiß auch kaum jemand Rat, kaum jemand versteht die komplexe Thematik. Wir werden wirtschaftliche und außenpolitische Positionen hoffentlich auf dem Bundesparteitag im Dezember beschließen.

Bei den Wahlen in Berlin haben Sie rund neun Prozent der Stimmen erhalten. Trotz oder gerade weil Sie als Partei zugeben, auf vieles keine Antwort zu haben?
Das widerspricht sich in diesem Punkt nicht. Wir waren für so viele Wähler attraktiv, weil wir auf basisdemokratische Weise zu unseren Entscheidungen kommen. Bei uns werden eben nicht wie bei anderen Parteien alle Antworten aus dem Grundsatzprogramm abgeleitet. Die Bürger wollen gefragt werden, das respektieren wir, das fließt in unsere Entscheidungen mit ein. Und: Wir arbeiten gerade mal seit zwei Jahren aktiv, in dieser Zeit kann keine Partei dieser Welt ein umfassendes Programm auf die Beine stellen.

2009 hieß es bei den Piraten: »Eine außenpolitische Haltung zu Israel haben wir derzeit nicht.« Wie sieht es heute, zwei Jahre später aus? Welche Position vertritt Ihre Partei im Nahostkonflikt?
Ich denke, dass die meisten Piraten eine sehr ausgewogene Meinung vertreten. Wir sind uns darin einig, dass die Politik und auch die Medien völlig objektiv sein müssen. Juden, die bisher in der ganzen Welt zerstreut waren, haben vor über 60 Jahren endlich eine Heimat erhalten. Israel als Staat – das darf man den Juden niemals wegnehmen oder bekämpfen. Das andere ist, dass ich persönlich auch die Palästinenser verstehen kann.

Wie meinen Sie das genau?
Ich meine diejenigen Palästinenser, die zurück in das Gebiet wollen, in dem sie oder ihre Eltern als Kinder gelebt haben. Sowohl für sie als auch für die Israelis muss es deshalb einen eigenen Staat geben, dessen Grenzen mit beiden Parteien abgesprochen werden müssen.

Werden wir konkreter: Wie genau könnte es zu einer Einigung kommen?
Ich tue mich da, ehrlich gesagt, unheimlich schwer. Auf der einen Seite bin ich mit der israelischen Siedlungspolitik so ganz und gar nicht einverstanden. Andererseits sind die Angriffe der Palästinenser auf Israel, wovon auch meine Verwandten dort betroffen sind, ebenso Unrecht. Ich habe in meinem Blog marinaslied.de mal einen Beitrag »Israel in meinem Wohnzimmer« geschrieben, wo ich mich mit der Frage befasse. Letztlich verstehe ich noch nicht genug von dieser Thematik. Das Ganze übersteigt – zumindest im Moment – meine Kapazitäten.

Lassen Sie uns auch über Sie persönlich sprechen. Noch vor Kurzem waren Sie eine ganz normale Psychologiestudentin. Nach dem unerwartet guten Abschneiden der Piratenpartei in Berlin wurden Sie schlagartig ins Licht der Öffentlichkeit katapultiert. Was hat sich seitdem in Ihrem Leben geändert?
Fast alles. Ungefähr 60 Stunden pro Woche gehen auf einmal für Parteiarbeit drauf, was ein echt krasser Einschnitt ist. Und auf einmal hat alles eine Bedeutung, was ich sage oder tue. Das ist schon sehr gewöhnungsbedürftig.

Wie stark mussten Sie sich daran gewöhnen?
Als ich im Mai in mein jetziges Amt gewählt wurde, habe ich die ersten drei Wochen geheult, Panikattacken geschoben und bin nachts aufgewacht. Ich dachte: Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, ich will nur noch auf einer grünen Wiese liegen, ohne über die Zukunft Deutschlands nachdenken zu müssen. Das ist dann langsam weggegangen, jetzt fühle ich mich wieder in meiner Haut wohl. Es ist und bleibt im Moment eine grandiose Zeit!

Wie sieht ein normaler Tag von Ihnen aus, seitdem Sie Politische Geschäftsführerin sind?
Ich stehe gegen zwölf Uhr mittags auf, frühstücke dann erst einmal ausgiebig mit meinem Freund und tausche mich mit ihm über Tagespolitik, Gott und die Welt aus. Der Rest des Tages ist geblockt für Parteiarbeit. Ich bekomme allein täglich 300 Mails, die ich alle irgendwie beantworten muss. Irgendwann gegen vier oder fünf Uhr morgens gehe ich dann ins Bett. Ein Hoch auf die Moderne!

Bleibt da noch Zeit für Hobbys?
Ich bin Rollenspielerin, ich spiele Gitarre, komponiere Lieder, zeichne und bin sehr interessiert an Literatur. Einiges davon musste ich in den vergangenen Monaten leider etwas hinten anstellen. Was ich am meisten bedauere, ist, dass ich im Moment keine Zeit mehr finde, am Schabbes in die Synagoge zu gehen.

Welchen Stellenwert hat der Schabbat für Sie?
Er strukturiert meine Woche. Jedes Mal am Freitag werde ich auf Reset gesetzt, die ganzen Alltagssorgen, die ganzen Mails, die ganzen Erwartungen treten in den Hintergrund. An diese Stelle tritt dann das Essenzielle, das Wichtige. Es ist schwer in Worte zu fassen, allein das Beten in der Gemeinschaft hat etwas sehr Reinigendes, Entspannendes für mich. Ich möchte es nicht missen.

Dabei kommen Sie aus einer durch und durch areligiösen Familie.
Ja, Religion hat bei uns zu Hause keine Rolle gespielt. Zur Gemeinde gingen wir allenfalls dann, wenn dort russische Musikgruppen spielten, die uns interessierten. Ich habe meine Jüdischkeit tatsächlich erst entdeckt, nachdem ich von zu Hause ausgezogen und nach Münster gegangen bin.

Sie sind gerade dabei, in Münster Ihr Psychologiestudium abzuschließen. Ist es wahrscheinlicher, dass Sie 2013 im Bundestag sitzen oder als Psychologin arbeiten?
Das weiß ich noch nicht. Ich habe in meinem Leben bisher noch nie Entscheidungen getroffen, die ich vorab lang geplant hätte. Ich entscheide aus dem Bauch heraus, wenn es so weit ist.

Jüngsten Umfragen zufolge käme Ihre Partei im Bund auf acht Prozent der Stimmen.
Das ist gut, aber ich hoffe, wir wachsen nicht in diesem Tempo weiter. Im Moment bin ich, ehrlich gesagt, skeptisch, ob die Piratenpartei Regierungsverantwortung übernehmen könnte. Wir müssen unsere neuen Mitglieder integrieren, wir brauchen ein Fundament. Mir wäre es lieber, wenn wir noch eine Weile lernen und unterm Radar der Aufmerksamkeit fliegen könnten.

Das Gespräch führte Philipp Peyman Engel.


Marina Weisband, 1987 in Kiew geboren, lebt und studiert in Münster. Sie ist seit Mai 2011 Politische Geschäftsführerin und Mitglied des Bundesvorstands der Piratenpartei Deutschland.

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