Es sollte eine Zeit des Triumphes für die US-Republikaner sein: Werden sie doch diese Woche die Kontrolle über das Washingtoner Repräsentantenhaus übernehmen, wenn der im November neu gewählte Kongress erstmals zusammentritt. Aber stattdessen stecken die führenden Köpfe der Partei in einer äußerst peinlichen Lage, die ihnen einer der Ihren beschert hat.
Wochen, nachdem der 34-Jährige George Santos einen wichtigen Wahlbezirk für sich entschieden und damit den Konservativen geholfen hatte, eine hauchdünne Mehrheit in der größeren Kongresskammer zu ergattern, wird im Bundesstaat New York gegen den gewählten Abgeordneten ermittelt. Zuvor war aufgeflogen, dass Teile seiner Lebensgeschichte, die er im Wahlkampf präsentierte, schlicht erlogen waren - von seinen Wurzeln über seine Ausbildung bis hin zu seiner beruflichen Tätigkeit. Er gab inzwischen gezwungenermaßen zu, dass er Abschnitte seiner Biografie erfunden hat.
Der Toprepublikaner im Abgeordnetenhaus, Kevin McCarthy, und sein Führungsteam sind bislang stumm geblieben - offensichtlich haben sie Probleme, einen Weg aus der prekären Lage zu finden. Santos, der nach dem bisherigen Plan am kommenden Dienstag seinen Amtseid ablegen wird, hat anscheinend keinen Rücktritt im Sinn, und so bleibt es der Partei und dem Kongress überlassen, über etwaige politische Konsequenzen zu entscheiden.
McCarthy, der Präsident des Abgeordnetenhauses werden will, antwortete nicht auf Fragen, was ihm in Sachen Santos vorschwebt. Santos selbst sagte, vom Sender Fox News nach seinen »krassen Lügen« gefragt, er habe einen Fehler gemacht.
Die Demokraten, die in der kommenden Legislaturperiode in der Minderheit sind, werden wahrscheinlich mehrere Möglichkeiten in Betracht ziehen. Dazu zählten eine Beschwerde bei der Bundeswahlkommission und die Vorlage einer Resolution im Abgeordnetenhaus, ihn aus dem Parlament auszuschließen, nachdem er sein Amt offiziell angetreten habe, sagte ein ranghoher Demokrat, der anonym bleiben wollte.
»Wir brauchen Antworten von George Santos. Er scheint eine völlige Mogelpackung zu sein«, sagte der designierte Fraktionschef der Demokraten im Abgeordnetenhaus, Hakeem Jeffries. »Er wird die Frage beantworten müssen: Haben Sie die Wähler des 3. Kongressbezirks von New York betrogen?«
Die Lawine war Anfang Dezember ins Rollen gekommen, als die »New York Times« seinen Lebenslauf prüfte und eine Reihe größerer Diskrepanzen aufzeigte. Seitdem hat Santos zugegeben, dass seine Angaben über jüdische Wurzeln, Holocaust-Überlebende als Verwandte, über seine Berufstätigkeit bei Wall-Street-Banken und über ein College-Diplom erlogen waren. Aber es gibt noch andere offene Fragen, etwa über die Quelle eines persönlichen Vermögens, das er anscheinend in kurzer Zeit erworben hat - trotz jüngster finanzieller Probleme wie Mietschulden.
Santos hatte die Wahl im November in einem Gebiet in Long Island gewonnen, das zuvor vom Demokraten Tom Suozzi im Kongress vertreten worden war. Damit wurde er der erste offen schwule republikanische Nicht-Amtsinhaber, der den Sprung ins Parlament schaffte.
Wenn er diese Woche ins Abgeordnetenhaus einzieht, könnte er es mit einer Untersuchung seitens des Ethikausschusses der Kammer zu tun bekommen, der Vorwürfe des Fehlverhaltens gegen Parlamentarier prüft. Das Gremium ist zu gleichen Teilen mit Republikanern und Demokraten besetzt und kann Kongressmitglieder zwecks Aussage vorladen. Zwar beziehen sich die Vorwürfe gegen Santos auf seine Zeit vor dem Einzug ins Abgeordnetenhaus, aber der Ausschuss hat im Laufe der Jahre seine Befugnis so definiert, dass ihm auch Untersuchungen möglicher Verstöße gegen Regeln und Standards im vorausgegangenen Wahlkampf möglich sind.
Ein Sprecher des Gremiums lehnte es ab, sich zur Frage potenzieller Ermittlungen zu äußern. Aber käme es dazu, wäre das vielleicht ohnehin das geringste von Santos‹ Problemen. Bundesankläger in der Stadt New York haben begonnen, seinen Background und seine finanziellen Verhältnisse und Transaktionen unter die Lupe zu nehmen, wie aus einer informierten Quelle verlautete. Demnach sind die Ermittler besonders an den Einnahmen des Republikaners interessiert und überprüfen die Angaben zu seiner Wahlkampffinanzierung, die er bei der zuständigen Behörde eingereicht hat.
Getrennt davon befasst sich die Bezirksstaatsanwältin von Nassau County, Anne T. Donnelly, mit Santos‹ biografischen Erfindungen während des Wahlkampfes in seinem Bezirk, der Gebiete von Long Island und einen kleinen Abschnitt des New Yorker Stadtteils Queens einschließt. Was Santos aufgetischt habe, sei wirklich atemberaubend, sagte Donnelly, eine Republikanerin, am Mittwoch. Die Einwohner von Nassau County und anderen Teilen im 3. Bezirk müssten einen »ehrlichen Vertreter im Kongress« haben. Auch die Staatsanwaltschaft von Queens County prüft, ob Santos in ihrem Zuständigkeitsbereich gegen Gesetze verstoßen hat.
Derweil sprach sich der gewählte republikanische Abgeordnete Nick Lalota, dessen Wahlbezirk an den von Santos angrenzt, für eine Untersuchung durch den Ethikausschuss des Parlaments aus. New Yorker verdienten die Wahrheit, sagte er, und die Republikaner im Abgeordnetenhaus eine Gelegenheit, ihre Arbeit »ohne diese Ablenkung« zu verrichten. ap