Karoline Preisler geht dieser Tage regelmäßig dorthin, wo sie nicht willkommen ist: auf antiisraelische Protestkundgebungen und Demonstrationen gegen den Krieg in Gaza, die allzu häufig nicht »propalästinensisch« sind, sondern israelfeindlich und antisemitisch. Sie geht allein, nur mit einem Schild in der Hand, auf dem sie auf das Schicksal der von der Hamas entführten Geiseln oder die vergewaltigten israelischen Frauen aufmerksam macht.
Die Juristin, die sich als junge Erwachsene an der friedlichen Revolution in der DDR 1989 beteiligte, ist seit elf Jahren Mitglied in der FDP. 2021 erschien Preislers Buch »Demokratie aushalten! Über das Streiten in der Empörungsgesellschaft«. Preisler ist Mutter von vier Kindern.
Trotz der Ablehnung, die ihr bei Demonstrationen islamistischer, rechter oder linker Gruppierungen entgegenschlägt, sucht die 52-Jährige den Dialog mit den Teilnehmern. Im Interview mit JA-Redakteur Michael Thaidigsmann erläutert Preisler, warum sie sich das antut.
Frau Preisler, Sie gehen regelmäßig zu »propalästinensischen« Demonstrationen, um dort auf die israelischen Opfer der Massaker vom 7. Oktober aufmerksam zu machen, und Sie berichten anschließend darüber in den sozialen Netzwerken. Warum?
Mich motiviert, dass ich so ganz praktisch etwas gegen die Terrorverherrlichung und Antisemitismus tun kann. Und ich würde es mir vorwerfen, würde ich meine Möglichkeiten nicht nutzen. Einfach zu schweigen käme mir unanständig vor, denn Schweigen kann meiner Auffassung nach Schwungmasse für Judenhass sein.
Sie provozieren damit auch Hass auf sich selbst. Warum tun Sie sich das an?
Die Versammlungswortführer nehmen für sich in Anspruch, im Besitz einer höheren Wahrheit zu sein. Sie mobilisieren die Massen, sie schüchtern ein, sie bedrohen unseren Pluralismus und ganz konkret die Juden im Land. Nichts dagegen zu unternehmen, wäre unanständig. Gegenrede ist eine konkrete Möglichkeit.
Am Wochenende wurden Sie in Berlin tätlich angegriffen. Was ist passiert?
Ich trug ein Schild, auf dem der Satz »Believe Israeli Women« geschrieben stand. Ein junger Mann, der sich mit Kamera getarnt hatte, rannte mit Anlauf gegen mich und traf mit voller Wucht meine Schulter. Mit dem Bodycheck wollte er mir wohl mein Schild entreißen. Die Polizei zog den Mann heraus, ich konnte kurze Zeit später nach Hause gehen und die Schulter kühlen. Polizisten und eine Passantin waren als Ansprechpartner sofort für mich da, ich hatte insofern großes Glück.
Sie waren auch bei Aufmärschen zum 1. Mai in Berlin dabei. Wie haben Sie den Tag erlebt?
Die Atmosphäre war anders als in den Vorjahren. In Berlin ist seit einiger Zeit die Polizeiarbeit spürbarer und erfolgreicher, wenn es um Ausschreitungen bei Demonstrationen geht. Das war auch am 1. Mai sichtbar. Schon Stunden vor den Demonstrationen konnte ich beobachten, wie Vorkehrungen getroffen und beispielsweise Absperrgitter aufgestellt wurden und die Polizei Präsenz zeigte. Sie hatte die Lage zu jeder Zeit im Griff. Das war früher nicht immer so.
Daneben haben sich Verhalten und Zusammensetzung der Demonstrationsteilnehmer verändert. Die »Ur-Berliner« Szene, zum Beispiel der Schwarze Block, kirchliche Gruppen und andere, sind den Aufzügen ferngeblieben. Dafür waren auf zwei von drei Versammlungen, die ich mir näher ansah, die Antisemiten stark vertreten. Die sonst übliche Maifest-Stimmung war also einer Lust an der Terrorverherrlichung gewichen.
Welche besonderen Erfahrungen haben Sie bei diesen Demonstrationen gemacht? Wer gibt dort den Ton an?
Man trifft dort viele verschiedene Menschen, Weiße, People of Colour, Frauen und Männer. Meist höre ich drei Sprachen: Englisch, Deutsch und Arabisch. Überall tragen die Menschen die Kufija, das sogenannte Palästinensertuch. Viele tragen Masken und Sonnenbrillen oder vermummen sich ganz. Ohne einen Blick in die Pässe geworfen zu haben - das äußere Erscheinungsbild lässt ja nicht auf die Staatsangehörigkeit schließen - habe ich den Eindruck, dass Personen mit Migrationshintergrund bei den aktuellen Protesten eine Führungsrolle einnehmen. Und dass Linksextreme sich sehr gern diesem Judenhass anschließen.
Kann man mit diesen Leuten überhaupt diskutieren?
Das ist unterschiedlich. Manchmal komme ich gut ins Gespräch, manchmal habe ich keine Chance. Unwidersprochen können die meisten Thesen, die dort vertreten werden, jedenfalls nicht bleiben. Also mache ich damit weiter.
Haben Sie das Gefühl, dass die Polizei bei den Demos im Großen und Ganzen angemessen handelt?
Ja. Die Polizei hat mit Sicherheit all die Probleme, die große Organisationen eben so haben. Aber meine Grundrechte kann ich meist nur ausüben, weil die Polizei bei den Versammlungen ein Auge auf mich hat.
Es wird immer wieder der Vorwurf laut, Proteste gegen die Politik Israels würden von staatlicher Seite aus in Deutschland unterdrückt oder zumindest eingeschränkt. Was sagen Sie dazu?
Das ist Nonsens, bei uns wird nichts unterdrückt! Ich war auf mehreren öffentlichen Versammlungen, auf denen die Regierungsarbeit Israels stark kritisiert wurde. Wer behauptet, Proteste gegen Israel würden staatlicherseits unterdrückt, steht vielleicht gerade mit einem Molotowcocktail vor einer Synagoge oder leugnet die Schoa. Leute, die so etwas sehr medienwirksam und mit großer Reichweite behaupten, können meistens nicht gut mit Gegenrede umgehen. Sie sollten aber wissen: Judenhass bleibt nicht unwidersprochen. Unser Land, unsere Regeln. So funktioniert Demokratie.
Sie waren am Freitag auch beim Sit-in an der Humboldt-Uni. Bekommen wir in Deutschland bald ähnliche Zustände wie an den Hochschulen in den USA?
Das ist sicherlich das Ziel dieser Aktionen, ja. Und es gibt weitere Parallelen. Nach dem Sturm auf das Kapitol in Washington 2021 wurde ein ähnlicher Angriff in Deutschland auch auf das Reichstagsgebäude in Berlin versucht. An diesem Tag stand ich am Rand der Demonstration und sah mit eigenen Augen, wie Rechtsextremisten und Delegitimierer sich formierten. Nun wird Ähnliches an den Hochschulen versucht.
Sind das Studierende oder Leute von außerhalb der Universität?
Am Freitag waren da jedenfalls viele Hochschulfremde, einschließlich Islamisten und Linken. Die Polizei ließ sich Studentenausweise zeigen. Es wurden nur wenige gezückt. Das ist ein Kräftemessen: Demokraten gegen die Feinde der Demokratie, Befürworter der Freiheit der Lehre gegen den antisemitischen Kulturkampf.
Sie haben sich in der Vergangenheit bereits Coronaleugnern und Querdenkern und zuvor auch Rechtsextremisten entgegengestellt. Wo war es für Sie persönlich am gefährlichsten?
Rechtsextremisten, Reichsbürger und Coronaleugner haben mich auf Feindeslisten gesetzt, Kampagnen gegen mich losgetreten, Flugblätter verteilt und mir sogar mit einem Erschießungskommando gedroht. Jemand brannte Hakenkreuze in unsere Decke. Die Gruppierung Nordkreuz nahm mich 2019 ins Visier, schrieb Beschaffungslisten für Leichensäcke und Löschkalk. Und vergangenes Jahr schickte mir jemand einen Galgenstrick ins Haus.
Aber all das ist nichts gegen die Extremisten aus der propalästinensischen Szene, die sich jetzt im Netz und auf der Straße auf mich stürzen. Die Gewaltbereitschaft ist groß, die Hemmschwelle niedrig. Selbst Frauen werden handgreiflich. Im November 2023 wurde mir bei einer Demonstration mit Vergewaltigung gedroht. Inzwischen habe ich aufgehört, diese Drohungen zu zählen. Ganz aktuell hat die Hamas in Deutschland zu meiner Hinrichtung aufgerufen. Ich wurde nach dem Sit-in vor der Humboldt-Uni als Ziel markiert, die Szene fordert meine Eliminierung.
Sie sind in der DDR aufgewachsen, waren 1989 bei der friedlichen Revolution gegen das SED-Regime dabei und sind heute in der FDP aktiv. In Ostdeutschland wird die AfD immer stärker. Sind Sie enttäuscht?
Die AfD ist überall stark, auch in Baden-Württemberg. Sie ist viel zu stark, leider auch in Ostdeutschland. Selbstverständlich gefährdet das die Demokratie, denn die AfD lehnt demokratische Werte, Gewaltenteilung und Andersdenkende ab. Sie ist dabei in bester Gesellschaft mit Islamisten, Putin-Verstehern und Marxisten. Menschenverachtende Positionen, hatte ich mal gehofft, hätten wir mit dem SED-Regime hinter uns gelassen. Aber leider ist dem nicht so.
Als ehemalige DDR-Bürgerin und als Wählerin bin ich allerdings allergisch, wenn Politiker große Reden schwingen und uns Ostdeutschen vorwerfen, wir seien demokratische Hinterwäldler. Durch unsere Erfahrung in zwei Gesellschaftssystemen haben wir ein feines Gespür für Menschen, die sich über uns erheben und uns politische Kompetenz absprechen. Die Quittung dafür kommt dann an der Wahlurne.
Ist die Demokratie in Deutschland angesichts dieser Entwicklungen in Gefahr?
Klares Ja! Die größte Stärke der Demokratie, ihre Dynamik und Offenheit, wird leider auch von denen genutzt, die sie abschaffen wollen. Das beginnt auf der Straße. Deswegen muss, wer dort zum Umsturz aufruft, auch auf der Straße Widerspruch erfahren. Meine größte Sorge ist die geringe Wahlbeteiligung.
Unsere Politik war in den letzten Jahren so enttäuschend, dass viele Menschen verdrossen sind und keine Hoffnung mehr haben. Dadurch ist die Wahlbeteiligung niedrig und die Chance für Maulhelden ungleich größer, als es sein müsste. Ich bin überzeugt davon, dass wir eine höhere Wahlbeteiligung haben werden, sobald die Politik dem eigenen Wahlvolk auf Augenhöhe begegnet.
Besteht nicht die Gefahr, dass sich die öffentliche Aufmerksamkeit nur auf die lautesten, die radikalsten unter den Protestierern richtet, und die große Masse der Menschen übersehen wird?
Das ist der Plan dieser islamistischen Bewegung. Meine syrischen Freunde, die als unbegleitete Minderjährige bei uns in Deutschland Schutz suchten, meine iranischen Freundinnen: Sie alle sind vor Islamisten geflohen. Die liberalen Muslime, die Säkularen und Menschen mit Angehörigen in muslimischen Ländern schweigen oft, weil sie sich ebenfalls fürchten. Unsere eigene Zivilgesellschaft steht konsterniert am Spielfeldrand. Diese Protestler überrennen brüllend unser friedliches Miteinander. Wir müssen als Gesellschaft wieder lernen, uns dagegen zu behaupten und das auch laut kundzutun. Sonst brüllen die Antisemiten uns bald alle nieder.
Wie bewerten Sie die deutsche Nahostpolitik, die ja nicht nur auf Demos auch sehr heftig kritisiert wird?
Von den rund 133 Menschen, die am 7. Oktober entführt wurden und immer noch in der Geiselhaft der Hamas und anderer Terroristen sind, sind rund zehn auch deutsche Staatsangehörige.
Das inkonsequente Verhalten meiner Außenministerin in dieser Krise ist mir peinlich. Deutschland verhält sich - das ist meine persönliche Auffassung - ehrenlos und pampert sogar indirekt noch diejenigen, die von der Entführung, Vergewaltigung und Ermordung fremder Staatsbürger sehr gut leben. Ich finde das unerträglich.