Wahl

Frau Aris macht weiter

Es ist schon kurz nach 18 Uhr an diesem Wahlsonntag, da schaltet Renate Aris in ihrer Dachgeschosswohnung in Chemnitz den Fernseher an. Dritter Kanal, Mitteldeutscher Rundfunk. Auf dem Bildschirm schnellt gerade ein blauer Balken in die Höhe, die erste Prognose zeigt einen klaren Wahlsieg für die AfD in Thüringen. Frau Aris rückt ihren Sessel näher zum Fernseher.

Auf der weißen Tischdecke, der sie nun den Rücken kehrt, liegt ein zerfledderter gelber Stern. Gerade noch hat Frau Aris ihn aus ihrem Schrank gezogen und erzählt, wie sie sich den Aufnäher als Zehnjährige von der Jacke riss und in der Bombennacht von Dresden der Deportation entkam. »Der da«, sagt sie jetzt und deutet auf den Fernseher, »ist auch ein Nazi vor dem Herrn.« Björn Höcke grinst siegesstolz in die Kameras.

Dann kommt die Hochrechnung für Sachsen, das Land, in dem Frau Aris seit 89 Jahren lebt. Man muss genau hinsehen, um zu erkennen: Der schwarze Balken überragt den blauen, ein paar Millimeter nur. »Na, Gott sei Dank«, sagt Frau Aris, dreht den Fernseher leise und sich selbst wieder zum Tisch. Sie weist auf ihre selbstgebackenen Butterplätzchen. »Nehmen Sie doch welche!«

Der rasante Aufstieg der Rechtsextremen scheint sie nicht zu erschrecken

Renate Aris wirkt weder schockiert noch erschüttert, so wie es viele in den nächsten Stunden sagen werden. Das liegt nicht daran, dass sie die Politiker, die nun hinter ihr lautlos aus dem kleinen Fernseher sprechen, nicht für gefährlich hält. »Gift und Galle« verbreiten die Köpfe der AfD, sagt sie. »Die vertiefen sich in eine Ideologie, deren Ausmaß sie gar nicht erlebt haben.« Und sie erinnert daran, was Alexander Gauland schon 2018 gesagt hat: dass »Hitler und die Nazis nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte« seien. Der »Vogelschiss« aber beschäftigt Renate Aris schon ihr ganzes Leben. Er hat beinahe die gesamte Familie ihres Vaters ermordet.

Woran liegt es dann, dass Renate Aris der Aufstieg einer rechtsextremen Partei in ihrer Heimat so cool bleiben lässt? »Es ist nicht 1933«, betont sie. Und sie sei auch keine »jüdische Mitbürgerin« – sie hasst diesen gestelzten Ausdruck –, um die man sich nun Sorgen machen müsse.

Nach 1945 musste die Familie Aris nach vorn schauen

Vielleicht, weil das schon immer ihr Lebensmotto war: Weitermachen. Nach Kriegsende richtete sich Familie Aris in der Wohnung ein, in der sie sich einst hinter einem provisorischen Apfellager vor der Gestapo versteckt hatte. Dieselben Nachbarn, mit denen man zuvor kein Wort tauschen durfte, aus Angst, sie würden einen verraten, wurden nun Freunde. Die zehnjährige Renate ging das erste Mal in ihrem Leben zur Schule und kam gleich in die vierte Klasse. Die anderen Schüler sollten nicht wissen, dass sie bisher bloß im dunklen Versteck unterrichtet worden war. »Mein Bruder und ich wollten keine Extrawurst«, sagt Aris.

Der Vater versammelte die Juden, die überlebt hatten, und baute in Dresden eine kleine Gemeinde mit auf, 1948 feierte Renate dort Batmizwa, in den Schuhen ihres Bruders, die drei Nummern zu groß waren. »Niemand hatte doch was«, sagt Aris. Sie meint das durchaus positiv: Die Menschen seien einander gleich gewesen, sagt sie heute. Man hatte überlebt. Jetzt schaute man nach vorn. Über das, was geschehen war, sprachen die Eltern kaum. »Es war eine euphorische Zeit«, sagt sie.

1952 starb ihre Mutter, man spürt noch heute, wie sehr sie der plötzliche Verlust mitgenommen hat. Von nun an führte Renate Aris den Haushalt, hütete die Lebensmittelmarken. Sie war 17 Jahre alt. Es musste weitergehen.

Es sei nicht 1933, sagt sie. Trotzdem gebe es Parallelen.

»Jede Gelegenheit, die ich bekam, ergriff ich. Und was ich nicht hatte, konnte ich nicht vermissen.« So beschreibt Renate Aris ihr junges Leben im sozialistischen Staat, der mit ihr wuchs. Aris liebte das Theater, also wurde sie Gewandmeisterin, später zog sie nach Karl-Marx-Stadt und arbeitete beim staatlichen Fernsehen. Sie bekam eine kleine Wohnung zugewiesen, in der sie heute noch lebt. »Mein erstes Möbelstück war ein Eimer, mit dem ich den Regen auffangen konnte, der durchs Dach tropfte, und den ich umdrehte, um mich darauf von meinen Reparaturarbeiten auszuruhen.« Heute sind die renovierten Zimmer Ausdruck des Lebens, das Frau Aris sich hier aus ganz eigener Kraft aufgebaut hat. Dicke warme Teppiche dämpfen die Schritte. Auf der Kommode stehen frische Blumen, drei goldene Menorot glänzen auf den Regalen. Kein Staubkorn liegt auf den antiken Büchern.

Frau Aris steht auf und gießt einen Filterkaffee in der Küche auf. Am Kühlschrank haften Magnete aus etlichen Ländern, ordentlich aufgereiht. Renate Aris hat die Welt bereist, zunächst so weit, wie sie dufte: Sie hat das schneebedeckte Leningrad erlebt und die drückende Hitze auf den Basaren von Samarkand. Mit kurzen Haaren und einem langen Mantel wagte sie sich zu den Männern in die Moschee und trank Tee mit dem Imam. »Der dachte, ich sei ein Junge!« Die Erinnerung amüsiert Frau Aris noch heute. Im Regal hat sie auch einen Koran stehen. »Muss man mal drin lesen, ist gar nicht uninteressant«, sagt sie. Dass die AfD die Muslime pauschal verurteilt, findet sie falsch. Und gleichzeitig kann sie verstehen, dass es den Chemnitzern zu viele Migranten werden. In manchen Gegenden, sagt Frau Aris, sehe sie viele junge Männer auf den Straßen, die alle wohl keine Arbeit hätten. Sie zweifelt daran, ob wirklich jeder hierhergekommen ist, weil er vor Krieg und Verfolgung flüchtete.

Frau Aris kann vieles, was ihre Nachbarn zur AfD treibt, verstehen. Sie erzählt von ihrem Chemnitzer Viertel, das draußen, vor dem Küchenfenster, in der Mittagssonne ruht. Als sie 1969 hier einzog, spielten noch Kinder auf der Straße, die Nachbarn hätten einander gekannt und geholfen, sagt Frau Aris. Es gab ein großes Werk in der Nähe, nach Schicht­ende belebten die Arbeiter die Gaststätten. Nach der Wende wurde zunächst das Werk geschlossen, dann gingen die Gaststätten pleite, nun grüßen manche Nachbarn nicht mehr.

Etwas fehle den Menschen hier, sagt Frau Aris.

Auch wenn die Villen aufwendig restauriert wurden, in den Vorgärten kreisrunde Buchsbäume stehen: Etwas fehlt. »Das Kollektivgefühl ist verschwunden«, sagt Frau Aris, und wenn man nachhakt, sagt sie, das sei nicht ideologisch gemeint. Aber die Nostalgie nach einer Zeit, in der man sich ähnlicher, auch näher war, die könne sie gut nachvollziehen. Wenn man Frau Aris zuhört, meint man, es ginge den meisten AfD-Wählern nicht darum, dass zu viele Migranten auf den Straßen seien. Sondern dass es die Einzigen sind, die überhaupt noch die Stadt beleben. Dass die Kinder, die einst hier gespielt haben, alle weggezogen sind. Dass die verlorene Werkarbeit durch Jobs ersetzt wurde, von deren Lohn sich kein Gemeinschafts­gefühl erkaufen lässt.

Gleichzeitig kann niemand, der hier wohnt, behaupten, er hätte von der Radikalität dieser Partei nichts mitbekommen, die zwar mit Nostalgie wirbt, aber vom Umsturz träumt. In Chemnitz hat die rechtsextreme »Identitäre Bewegung« im vergangenen Jahr ein Zentrum gegründet. Ihr langjähriger Kopf Martin Sellner, der Mann, der in der berüchtigten Potsdamer Hotellobby der AfD seine rassistischen »Remigrationspläne« vorstellte, hielt dort eine Rede. Rund 260 Menschen protestierten dagegen. Doch »die Chemnitzer Festung«, wie die Identitären ihr Zentrum auch nennen, ist nicht gestürzt. Und das Wort »Remigration« steht auf fast jedem blauen Plakat, das hier hängt. Die meisten haben die AfD nicht trotz, sondern wegen ihrer radikalen Abschottungspolitik gewählt, zeigen Umfragen.

Vieles, was ihre Nachbarn zur AfD treibt, kann sie nachvollziehen.

Renate Aris ist eine der letzten Schoa-Überlebenden in Sachsen, die letzte im Raum Dresden und Chemnitz. Sie will, dass nicht vergessen wird, was nur noch sie erinnern kann. Seit ihrer Verrentung kurz nach dem Mauerfall ist diese Aufgabe wie ein zweiter Beruf geworden. Manchmal besucht Frau Aris vier Mal in der Woche Schulen und führt Klassen durch die Chemnitzer Synagoge.

Wenn man sie fragt, warum sie damit begonnen hat, sagt sie: »Es war vorher nicht so sehr gefragt, in der DDR.« Sonst übt sie wenig Kritik an dem System, von dem andere Juden sagen, ihre Geschichte sei im vom Staat pauschal ausgerufenen Antifaschismus untergegangen. Alles Religiöse sei verblasst. Auch für Frau Aris waren jahrzehntelang die Anrufe ihres Bruders am Freitagabend das einzig Jüdische in ihrem Alltag. Vieles aber bewahrte sie im Kopf und im Herzen. »Gläubig zu sein, bedeutet für mich, anzuerkennen, was in unserer Tora geschrieben steht«, sagt sie. Auch wenn sie sich natürlich nicht an alle 613 Gebote halte, den großen und kleinen Besuchern ihrer Synagoge erzähle sie gern davon. Oft sei sie die erste Jüdin, der die Menschen begegnen.

Die Kennkarte, die sie als Kind tragen musste, zeigt sie heute Schulklassen

Neulich, erzählt sie, habe sie einer Klasse die Kennkarte der Nazis gezeigt, die alle Juden ab 1938 bei sich tragen mussten. Auf dem angehefteten Foto sind der Dreijährigen die Haare hinters Ohr gesteckt. Frau Aris erklärte den Kindern, dass die Nazis glaubten, man könne Juden an angewachsenen Ohrläppchen erkennen. Da rief ein Junge: »Ich habe auch solche Ohren, aber ich bin doch Muslim!« – »Siehst du, was für ein Unsinn das war!«, rief Frau Aris, und die beiden mussten lachten. Die Kinder und Jugendlichen seien empathisch, stellten bessere Fragen als Erwachsene, sagt Frau Aris. Aber: »Sie assoziieren das Erzählte nicht mit den heutigen Tendenzen.«

Es ist die Generation, die sich nun in der Masse für eine rechtsextreme Partei interessiert. Eine Woche vor der Landtagswahl durften auch die unter 18-Jährigen in Sachsen ihre Stimme abgeben, zur Probe. Jeder dritte Jugendliche machte sein Kreuz bei der AfD. Sie sei darüber nicht wütend, sagt Frau Aris. Aber enttäuscht von der Politik. Seit Jahren mahne sie, dass die paar Stündchen, in denen die Schüler vom Nationalsozialismus erfahren, nicht reichen. Und dass man aufklären müsste, wie sich Antisemitismus fortsetzt.

Sie erkenne viele Dinge wieder, sagt Frau Aris, nicht nur in den Reden der Rechts­­extremen. Wenn sie höre, dass man in Berlin nicht mehr mit Kippa herumlaufen könne, ohne verprügelt zu werden. Dass Juden bei Treffen ausgeschlossen werden, weil sie zu Israel stehen. In Chemnitz sei ihr so etwas nie passiert. Nach dem Massaker des 7. Oktober kamen spontan etliche Menschen in die Innenstadt, sangen die Hatikwa. Aris hat Videos mit ihrem Handy gemacht, die sie sich nun noch einmal ansieht. »Das hat mich berührt.«

»Ich habe immer noch ein Grundvertrauen in meine Mitmenschen«

Sie habe ein Grundvertrauen in ihre Mitmenschen, sagt Renate Aris. Das könnten auch die Wahlergebnisse nicht erschüttern. Sie habe auch keine Angst, weder vor den neuen Nazis noch vor den Schreihälsen, die in letzter Zeit auch dazwischenrufen, wenn Frau Aris auf einer Kundgebung spricht, die etwas mit Israel zu tun hat. Sie mache weiter, ein paar Ziele habe sie noch: In Dresden soll am alten Leipziger Bahnhof, von dem aus Tausende einst in die Vernichtung geschickt wurden, eine Gedenkstätte, eine Begegnungsstätte, ein Lernort entstehen. Dafür kämpft Frau Aris. »Ich hoffe, dass ich noch durchhalte, bis ich 90 bin!«

Renate Aris hat in ihrem Leben vieles gesehen: Verfolgung und Tod. Krieg und Frieden. Sozialistische Fantasien und realen Zusammenbruch. Sie hat in vier politischen Systemen gelebt, ohne ihre Heimat zu verlassen. Sie wäre auch in Sachsen geblieben, wenn die AfD gewonnen hätte, sagt sie. Sie habe schließlich schon ihr Grab reserviert, auf dem Jüdischen Friedhof in Dresden, gleich neben ihrem Bruder. Sie sei zuvor hingefahren und habe geprüft, wer dann so aus der kleinen Dresdner Gemeinde neben ihr läge, die meisten Namen kenne sie ja. »Zum Glück konnte ich die alle gut leiden!«, sagt Frau Aris und lacht.

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