Nach der Bootskatastrophe vor Lampedusa und bei der Diskussion über europäische Flüchtlingspolitik sollten wir uns erinnern: In den Wirren nach dem Mauerfall 1989 kamen Flüchtlinge aus Osteuropa vor allem nach Berlin, darunter auch Juden. Es kamen danach rund 100.000 jüdische »Kontingentflüchtlinge« nach Deutschland. Es waren Heinz Galinski und Wolfgang Schäuble, die die Kontingentierung von Flüchtlingen auf die Bundesländer beschlossen hatten. Insgesamt ist die jüdische Zuwanderung seither eine Erfolgsgeschichte.
Im Kern basiert dieser Erfolg auf dem Willen der Beteiligten. Die Bundesländer und die jüdischen Gemeinden und Landesverbände haben sich gemeinsam angestrengt. Und die Flüchtlinge haben uns vor allem eines geben können: den Glauben an eine bessere Zukunft. Alle profitierten und profitieren weiter davon.
Hilfe Dieses Modell heute auf Europa zu übertragen, würde nicht nur heißen, dass 28 reiche Länder Flüchtlinge aufnehmen, sondern dass sie auch den Willen haben, in ihnen das zu sehen, was diese in Europa sehen: Zukunft. Sie könnten damit den Europäern wieder helfen, die Krise bei sich zu überwinden, denn sie ist im Kern eine Krise des Willens. Europa hat nur dann eine Zukunft, wenn wir auch zusammen diese Zukunft wollen – so wie die Flüchtlinge, die dafür sogar ihr Leben riskieren.
Dazu gibt es momentan keine Alternative. Ratschläge, die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern zu verbessern, sind nicht nur wohlfeil; sie sind dumm, politisch unrealistisch und dazu noch historisch tragisch: Als 1938 in Evian die »Internationale Flüchtlingskonferenz« tagte, wurden erschreckend ähnliche Rufe laut. Damals hieß es: Statt Juden aufzunehmen, sollte mit den Nazis darüber verhandelt werden, den Juden das Bleiben in Deutschland zu erleichtern.
Natürlich kann man Nazis nicht vergleichen mit Al-Shabaab, Al-Qaida oder den Taliban, die in den Herkunftsländern der Flüchtlinge das Leben unmöglich machen. Es ist aber schlimm genug, die europäischen Regierungen von damals mit den europäischen Regierungen von heute vergleichen zu müssen. Mit jedem ertrinkenden Flüchtling werfen sie auch die Werte des vielbeschworenen jüdisch-christlichen Erbes des Abendlandes über Bord. Und sich und ihr schönes Europa selbst – wie ihre Vorgänger 1938.
Der Autor ist Rabbiner der Budge-Stiftung in Frankfurt/Main.