Man stelle sich vor: Eine Datei mit detaillierten Informationen über iranische Oppositionelle und andere politische Gegner des Regimes in Teheran wird der US-Botschaft zugespielt. Kurze Zeit später werden die Dokumente »geleaked«, sind also für jedermann – einschließlich der Mullahs – im Internet einsehbar. Eine Katastrophe, die zweifellos Menschenleben in Gefahr bringen
Ein konstruiertes Beispiel, sicherlich. Aber eines, das auf einem konkreten Fall beruht. Im Juli 2010 hatte die Enthüllungsplattform Wikileaks vertrauliche Dokumente zum Afghanistan-Einsatz veröffent- licht und dort aufgeführte Namen nicht geschwärzt. Auch nicht die der afghanischen Informanten, die im Dienste der US-Truppen stehen. Wie bedrohlich das für die Betroffenen ist, liegt auf der Hand. Ebenso, dass man dies wohl kaum gutheißen kann.
Die Macher von Wikileaks freilich würden ganz anders argumentieren: Informationen müssen für alle frei zugänglich sein. Das nutzt denjenigen, die unserer Demokratie wohlgesinnt sind und aufklären wollen. Damit sind die Daten zwar für aufklärerische Geister und Demokratie-Verfech- ter von Vorteil, aber eben auch für diejenigen, die sich aus dem Datenpool bedienen, um anderen zu schaden.
Originalton Noch etwas kommt hinzu: In der hitzigen Debatte über Nutzen und Schaden von Wikileaks drängt sich der Eindruck auf, die Mehrheit freue sich darüber, dass »den Mächtigen« nun endlich mal eins ausgewischt werde. So war zum Beispiel lange bekannt, wie sehr die Führer der Golfstaaten den Iran fürchten. Doch es ist schon noch etwas anderes, dies im Originalton nachzulesen. Allerdings reicht diese Art der politischen Nachricht nicht aus, um die Welt aus den Angeln zu heben. In Deutschland standen folglich boulevardeske Details über Politiker im Mittelpunkt der Berichterstattung – oder das Schicksal von Wikileaks-Sprecher Julian Assange.
Vernachlässigt wird dabei, dass die Organisatoren von Wikileaks nichts grundsätzlich Neues erschaffen haben. Die Weitergabe geheimer Informationen ist ein ur- altes Phänomen. Schon von jeher wurde Vertrauliches an die Presse oder andere Staaten weitergereicht, um es publik zu machen – meist, um anderen zu schaden. Die Medien wiederum bereiteten das Material auf und recherchierten, um es dann einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.
Politische Motive Wikileaks will nun Teile dieses Ablaufs durch die Masse der Netznutzer demokratisieren und die »Macht« des Wissens auf viele Schultern verteilen. Allerdings ist die Masse der Informationen so groß, dass sich Spezialisten mit ihnen auseinandersetzen müssen. Damit ist man erneut auf professionelle Erklärer und Deuter angewiesen, über deren politische Motive wir wenig wissen. Einen neutralen Akteur kann es nicht geben: Wird Wissen bewusst zurückgehalten, entscheidet man sich in diesem Fall für die USA. Wird es weitergegeben, spielt man womöglich Washingtons Feinden in die Hände.
Der Talmud (Joma 4b) vertritt da eine klare Position: Informationen, die unter vier Augen oder wie auch immer vertraulich ausgetauscht wurden, dürfen nur weitergegeben werden, wenn der Gesprächspartner sein Einverständnis erklärt hat. In Kohelet heißt es, »ein Verleumder gibt Anvertrautes preis, eine vertrauenswürdige Seele hält es geheim« (11,13). Es ist nur dann erlaubt, Geheimnisse zu verraten, wenn dadurch Menschenleben gerettet werden können. Ein klarer ethischer Rahmen ist somit vorgegeben.
Seit Jahren heißt es, das Internet und »freie Information« seien der Schlüssel für eine offene, demokratische Gesellschaft. Die Datenbestände zu allen möglichen Themen wachsen beständig und werden der Allgemeinheit zugänglich gemacht. Aber das allein bedeutet noch keinen Umbruch. Die Nutzer müssen lernen, verantwortlich mit den Informationen umzugehen und sie richtig einzuordnen. Heute werden selbst sensible Dokumente ohne Zögern per E-Mail verschickt, ganze Bibliotheken können auf einen Stick von der Größe eines Radiergummis gezogen werden. Dass früher nicht so viel Wissen öffentlich gemacht wurde, ist keine Frage der Mentalität, sondern eine der technischen Möglichkeiten.
Wikileaks ist somit kein Symptom für gesellschaftliche Veränderungen, sondern für die Vereinfachung und Beschleunigung von Vorgängen, die es schon immer gab. Eine Veränderung wird nur dann eintreten, wenn die potenziellen »Weiterreicher« keinen Grund mehr für das »Leaken« der Daten sehen. Entweder, weil sie von der Sensibilität des Materials überzeugt sind oder sich mit ihrem Arbeitgeber identifizieren. Das eingestaubte Wort »Loyalität« könnte wieder vom Dachboden geholt werden. Denn Wikileaks ist Segen und Fluch zugleich. Wie das Internet als Ganzes.
Der Autor ist Publizist und Herausgeber der Website www.talmud.de.