Herr Wolffsohn, Sie haben sich immer als deutsch-jüdischen Patrioten bezeichnet. Gab es Zeiten, in denen mal der deutsche Anteil überwog, mal der jüdische?
Ich kenne kein diesbezügliches Messgerät und kann deshalb diese Frage nicht präzise beantworten. Nicht einmal ein Genie wie Shakespeare hat das jeweils beschriebene Ich auf nur eine oder zwei Dimensionen zusammenschrumpfen lassen. Ich bin zwar jüdisch, doch leider kein Genie und muss daher passen. Jedenfalls bin ich deutschjüdisch oder, wenn Sie wollen, jüdischdeutsch. Aber bitte ohne Bindestrich. Der suggeriert Bindung, schafft aber faktisch Trennung.
Kann man das Begriffspaar »deutsch-jüdisch« als symbiotisch verstehen?
Deutschjüdisch ohne Bindestrich. Symbiose oder nicht – dieses Thema müssen wir nicht wiederkäuen. Dazu ist »alles gesagt, nur noch nicht von jedem« (Karl Valentin). Wer will, kann sowohl jüdisch als auch deutsch ganz getrennt leben. Ich will nicht. Zwei ist mehr als eins.
Inwieweit ist Ihrer Einschätzung nach »deutschjüdisch« noch ein Zukunftsmodell?
Einerseits war nie mehr deutschjüdische Zukunft als jetzt. Die große Mehrheit der Deutschen in Gesellschaft und Politik akzeptiert uns Juden ohne Wenn und Aber. Warum auch nicht? Fast jeder hier lebende Jude führt ein bürgerliches Leben, verbessert das Bruttosozialprodukt, zahlt Steuern, engagiert sich fürs Gemeinwesen, und keiner wirft Bomben. Ab und zu rücken wir in die Position der Moralinstanz, doch auch das hat zu Recht nachgelassen. Das ist die eine Seite. Das ist die andere: Ja, es gibt Distanz oder gar Feindschaft gegenüber und Gefahren für uns Juden.
Wie sehen diese Gefahren konkret aus?
Da ist erstens die alte und neue militante Rechte. Da ist deren harmlosere Variante: der, wie wir sagen, gute alte Risches, also der klassische Antisemitismus der sogenannten feinen Kreise. Da ist zweitens die alte und neue Linke. Sie gefährdet unsere existenzielle Sicherheit, weil sie Israel als jüdischen Staat, also unsere Lebensversicherung, so sehr liebt, dass sie es am liebsten aufgelöst in der islamisch-arabischen Welt sähe. Drittens, und historisch relativ neu für Deutschland und Westeuropa, gibt es den sehr gefährlichen muslimischen Antisemitismus. Der betrachtet Deutschland und Westeuropa als nahöstlichen Nebenkriegsschauplatz. Er wird zudem von der Judenfeindschaft im Koran sowie der mündlichen religiös-islamischen Überlieferung gespeist. Anders als das amtliche Deutschland und freiwillig Wegschauende uns Juden einzureden versuchen, ist das derzeit die größte Gefahr für Juden und die offene Gesellschaft überhaupt.
Ihr Historikerkollege Dan Diner hatte kürzlich in der »Welt am Sonntag« ein düsteres Szenario für Deutschland entworfen. Insbesondere das alte Parteiensystem würde zerfallen, was wiederum die Stabilität gefährde. Teilen Sie diese Einschätzung?
Dan Diner ist ein brillanter Denker. Instabilität muss aber nicht automatisch gefährlich sein. Sie kann kreativ wirken. Mehr Kreativität und weniger Konformität durch Stabilität täte Deutschland gut. Geistiger Mehltau hat sich über Land und Leute gelegt. Es gibt intellektuell nichts Langweiligeres als die Berechenbarkeit von Gedanken. Die hat hierzulande einen kaum zu ertragenden Geistesmief geschaffen. Einer der wenigen, die deutsche Fenster aufstoßen und das deutsche Haus geistig lüften, ist Dan Diner.
Welche Folgen für die jüdische Gemeinschaft könnte der aktuelle Bedeutungsverlust der großen Volksparteien mit sich bringen?
Nicht die Parteien sind das Problem, sondern die Veränderungen in der Gesellschaft. Parteien sind meistens nur das Sprachrohr von Teilen der Gesellschaft, lateinisch »pars«. Daher das Wort Partei. Um von ihrer Teilgesellschaft gewählt zu werden, tritt die jeweilige Partei an und versucht, weitere Teile zu gewinnen. Unausgesprochen fragen Sie nach der AfD. Ja, in der AfD gibt es Antisemiten, aber auch solche, die keine sind, und sogar Juden. Man vergesse nicht, dass ein Drittel der französischen Juden 2017 Le Pen gewählt hat. Wer falsche Diagnosen erstellt, ist unfähig zur Therapie. Wer, wie auch ich, die Neue Rechte in ganz Europa bekämpft, sollte von der richtigen Diagnose ausgehen. Eine immer größere deutsche Teilgesellschaft wird die uns mehrheitlich leider nicht wohlgesonnene muslimische. Schon aufgrund ihrer im Vergleich zu uns Juden großen Zahl werden außer der AfD die übrigen Parteien Muslime umwerben. Ob das »gut für die Juden ist«, darf bezweifelt werden. Ich erwarte mittelfristig ohnehin die Gründung einer muslimischen Partei. Diese wird sich später spalten, in je einen gemäßigten und einen extremistischen Teil.
Geht damit auch ein Stück Nachkriegsgeschichte zu Ende?
Das ist mir zu schematisch. Jedes Heute ist anders als das Gestern oder Morgen. Ich bin immer für die Beschreibung der Wirklichkeit als Wirklichkeit. Die muss mit Inhalten erfasst werden, nicht mit abstrakten Begriffen. Dann kann man die Wirklichkeit nämlich gegebenenfalls ändern. Stichworte: Diagnose und Therapie.
Die deutsch-israelischen Beziehungen sind in den Bereichen Wirtschaft, Forschung und Wissenschaft oder Sicherheit enger denn je. Trotzdem scheint auf politischer Ebene eine gewisse Entfremdung stattzufinden. Ist das richtig?
Seit den frühen 80er-Jahren ist das so. Nichts Neues unter der Sonne – um endlich eine jüdische Quelle zu zitieren. Hier reagiert die Politik auf die Gesellschaft und steuert auch hier nicht. Sie wird gesteuert.
In Ihrem aktuellen Buch »Friedenskanzler – Willy Brandt zwischen Krieg und Terror« thematisieren Sie dessen nicht ganz unproblematisches Verhältnis zu Israel und den Juden. Inwieweit strahlt das Erbe Brandts auf die heutige SPD noch aus?
Schon vor Brandt waren die SPD-Veteranen, wie auch die späteren SPDler, keine Antisemiten, aber es missfiel ihnen, dass die meisten Juden liberale Parteien wählten. Und den Zionismus mochten sie eh nicht. Auch Brandt nicht. Seine größte Fähigkeit bestand darin, dass er das Gras in der deutschen Gesellschaft wachsen hörte - besonders bei den damals Jungen, den 68ern, die ab 1969 scharenweise in die SPD strömten. Die waren, freundlich formuliert, weder Juden- noch Israelfreunde. Ganz in deren Sinne verkündete Brandt intern schon am Anfang der SPD-FDP-Koalition, dass er eine Israelpolitik »ohne Komplexe« betreiben werde. Gesagt, getan. Ende 1970 hatten er und seine Regierung unendlich viel jüdisches und israelisches Porzellan zerschlagen. Der Kniefall am Warschauer Ghetto-Mahnmal lässt viele vergessen, dass Brandt damals absichtlich keinen Juden mit nach Warschau nahm. Als Israels Existenz im Jom-Kippur-Krieg Spitz auf Knopf stand, verbot er den USA, für Israel lebenswichtige US-Waffen aus der BRD nach Israel zu liefern. Der Beispiele sind im Buch viele. Freunde handeln anders. Das strahlt bis heute aus.
Dem Ex-Vizekanzler und Ex-Außenminister Sigmar Gabriel stellten Sie am Ende seiner Amtszeit im »Handelsblatt« ein denkbar schlechtes Zeugnis aus. Warum genau?
Beim, ganz allgemein, wortstarken und handlungsschwachen Außenminister Gabriel hatte die antiisraelische und proiranische Provokation System. Egal, wie man zu Netanjahu oder sonst wem und was in Israel steht, der wiederholte Vorwurf, Israel sei ein Apartheidstaat, zeugt von absoluter Ahnungslosigkeit gegenüber Israel und der echten Apartheid. Mehrfach hat Gabriel Israels Regierung gegenüber sozusagen Boxhandschuhe angezogen. Er pickte sich à la carte die israelischen Minigruppen heraus, mit denen er sprechen wollte. Das ist sein gutes Recht, aber politisch dumm, weil nicht zielführend. Reine Windbeutelei. Dazu sein Klinkenputzen im Iran plus Unterwürfigkeit gegenüber Erdogan.
Außenminister Heiko Maas schlug nach seinem Amtsantritt Israel gegenüber einen versöhnlicheren Ton an. Markiert er einen Wechsel in der sozialdemokratischen Haltung zu Israel?
Maas ist wahrlich nicht das Maß aller SPD-Dinge. In meinem Willy-Brandt-Buch dokumentiere ich rund 100 Jahre SPD-Politik gegenüber Juden und Israel und räume mit der Legende einer traditionellen, ungebrochenen Juden- und Israelfreundschaft der SPD auf. Es gab freilich ganz echte Juden- und Israelfreunde in der SPD. Johannes Rau, Annemarie Renger, Hans Koschnick, Georg Leber, Walter Hesselbach zum Beispiel, nicht aber, siehe die Belege in meinem Buch, Willy Brandt oder Helmut Schmidt – und sicher nicht Gerhard Schröder.
Das Interview mit dem Historiker führte Ralf Balke.