Schon wieder gab es eine Deklaration mit den üblichen und überschaubaren Unterschriften. Dieses Mal geht es gegen die international anerkannte und im Kampf gegen Judenhass praktisch gut zu benutzende Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die mittlerweile von vielen EU-Ländern zugrunde gelegt wird. Erst im Januar hatte die Europäische Kommission ein Handbuch dazu vorgelegt.
Die »neue Antisemitismusdefinition« geriert sich nun unter dem schon oft strapazierten Namen »Jerusalem Declaration« als Alternative zur IHRA-Definition – und lässt dabei die Forschung zum Judenhass der vergangenen 60 Jahre außen vor. Die Unterzeichner, viele von ihnen ohne einschlägige Expertise, erheben den Anspruch auf eine Antisemitismusdefinition, die besser und präziser sein, die »die Meinungsfreiheit nicht einschränken soll«. Als ob die IHRA dies je getan hätte.
FEHLEINSCHÄTZUNG Doch diese »Erklärung« bietet – wissenschaftlich betrachtet – in Bezug auf die Erklärung von Judenhass nichts Neues, Erhellendes oder Präzisierendes. Ganz im Gegenteil: Sie basiert auf faktisch falschen Prämissen.
Sie ist erstens zu eng, denn sie setzt Judenhass mit Rassismus gleich. Die konturiert rassistische Variante der NS-Zeit findet sich heute noch bei Rechtsextremisten und Neonazis, nicht jedoch im linken, muslimischen und Mitte-Antisemitismus. So erfasst diese »Definition« nicht die Vielfalt der Ausdrucksformen von Antisemitismus im 20. und 21. Jahrhundert.
Zweitens blendet sie die lange kulturhistorische Tradition der Judenfeindschaft aus, ein Phänomen, das stets aus der gebildeten Mitte kam, bevor es die Ränder erreichte, und nivelliert dessen kollektive Verankerung als unikales Ressentiment: Antisemitismus lässt sich nicht einfach als ein Vorurteil unter anderen subsumieren.
konstante Wer die lange Geschichte von über 2000 Jahren Judenfeindschaft und ihre chamäleonartige Anpassungsfähigkeit kennt, weiß, dass dies eine grobe Fehleinschätzung ist. Judenhass ist eine kulturelle Konstante. Deshalb ist er so resistent.
Judenhass lässt sich nicht einfach als ein Vorurteil unter anderen subsumieren.
Drittens ignoriert die »Neudefinition« die Hauptformen des antisemitischen Diskurses: Denn der Großteil antisemitischer Kommunikation, das zeigen seit Jahrzehnten alle empirischen Analysen, verläuft seit 1945 implizit, das heißt, unter Camouflage.
Um sich vor dem Vorwurf des Antisemitismus zu schützen und weiterhin ungestört judenfeindliche Botschaften verbreiten zu können, benutzen Antisemiten im öffentlichen Raum indirekte Sprechakte mit Substitutionen wie »Israel-Lobby« oder »Zionisten«. Das Wort Jude muss nicht artikuliert werden, um Antisemitismen zu produzieren. Das Plakat »Israel ist unser Unglück!« (Die Rechte) ist ein typisches Beispiel dafür.
TENDENZ Der israelbezogene Antisemitismus, nachweislich heute die vorherrschende Variante, wird jedoch von allen Antisemiten geleugnet, verschwörungsfantastisch gar als »Erfindung, die Kritik am Zionismus unterbinden soll«, diskreditiert. Dieser Tendenz müssen Politik und Gesellschaft entgegentreten – und zwar anders als in den üblichen Sonntagsreden auch und gerade mit Blick auf die jüdischen Opfer antisemitischer sowie anti-israelischer Gewalt.
Dass die »Neudefinition« ausgerechnet diese dominante Form des Judenhasses im 21. Jahrhundert relativiert, spielt all denjenigen in die Hände, die »Israelkritik« sagen und Judenfeindschaft meinen. Die IHRA-Definition hat zu Recht, und bestätigt von der Forschung, diese Manifestation fokussiert, denn sie führt die Tradition des Antijudaismus modern formuliert fort.
Der Hass auf den jüdischen Staat verbindet heute alle Antisemiten gleich welcher politischen Richtung; er ist das Bindeglied zwischen allen sonst divergierenden Gruppen und dadurch besonders gefährlich. Zumal der Hass allzu oft als »legitime Kritik« artikuliert wird.
Diese Alltagsvariante gilt es weltweit besonders energisch zu bekämpfen, denn sie macht judenfeindliche Stereotype salonfähig, sie gibt den radikalen Kräften genau den Resonanzraum in der Mitte, den sie brauchen. Die gute und praktikable IHRA-Arbeitsdefinition hier ohne Grund zu attackieren, leistet nur eines: Verwirrung.
DE-REALISIERUNGEN Zudem bleibt politische Neutralität, sine qua non für Wissenschaft, auf der Strecke: Dies ist ein politisches Pamphlet, wie schon der selbst gewählte Begriff der »Deklaration« nebst »Präambel« nahelegt (Kategorien, die der Forschung fremd sind), kein wissenschaftlicher Text. Hier wird auch klar politisch Partei im arabisch-israelischen Konflikt ergriffen. Es kommt ausschließlich das palästinensische Narrativ zum Ausdruck.
De-Realisierungen wie »Apartheid« und delegitimierende Boykottaufrufe werden dagegen als »nicht per se antisemitisch« eingestuft. Entsprechend werden die realen Auslöschungsbedrohungen (unter anderem durch Hamas, Hisbollah, Iran) ebenso ausgeblendet wie die sorgenvolle Perspektive der Opfer von Antisemitismus.
Die Unterzeichner legitimieren sich durch den Hinweis, sie trügen jüdische Stimmen in die Diskussion. Doch diese bilden lediglich eine Ausnahmeposition ab. Die überwältigende Mehrheit der Juden verurteilt israelbezogenen Antisemitismus und leidet unter den permanenten Diffamierungen. Dass diese Perspektive ignoriert wird, zeigt einen eklatanten Mangel an Empathie gegenüber der weltweiten Furcht jüdischer Menschen angesichts immer selbstbewusster auftretender Judenfeinde.
KOPFSCHÜTTELN Sicher wird es auch Beifall für diese »Neudefinition« geben: von den Extremisten, Fundamentalisten, Verschwörungsfantasten, einigen Laien und von den »ehrbaren Antisemiten«. Rechtsextreme werden eventuell noch einmal Plakate mit dem Slogan »Israel ist unser Unglück« drucken, BDS-Anhänger erneut israelische Holocaust-Überlebende niederbrüllen und zum Boykott Israels aufrufen, moralisierende Humanisten die Meinungsfreiheit feiern und »Verbesserungsvorschläge« für den jüdischen Staat formulieren. In der Scientific Community aber gibt es nur verständnisloses Kopfschütteln.
Dies ist eine politische Manifestation, die gegen Israel gerichtet ist.
Wissenschaftlich fundierte Erklärungen, was Antisemitismus als Weltdeutungssystem ist und was nicht, gibt es bereits viele. Die Unterzeichner hätten die Standardwerke der Antisemitismusforschung renommierter Experten wie Leon Poliakov, Robert Wistrich, David Nirenberg und zentrale Werke der Holocaustforschung von Yehuda Bauer, Saul Friedländer, Ulrich Herbert oder Peter Longerich lesen sollen, statt der Öffentlichkeit ihre »Erklärung« als Definition unterzujubeln.
manifestation Als Fazit bleibt: Dies ist keine wissenschaftliche Definition, sondern eine politische Manifestation, die gegen Israel gerichtet ist. Sie behindert die Aufklärung und den Kampf gegen Judenhass.
Was tun mit dieser »Deklaration«? Ihr möglichst keine Aufmerksamkeit mehr schenken. Angesichts wachsender Hasskriminalität gegen Juden, den jüdischen Staat und seine Bürger haben wir in der Antisemitismusforschung wirklich wichtigere Probleme.
Die Autoren sind Antisemitismusforscher an der Technischen Universität Berlin, der Frankfurt University of Applied Sciences und der Universität Groningen.