Wir nehmen die Situation der Flüchtlinge als unsere persönliche Tragödie wahr», erklärte die Vorsitzende des Rates der Republik der belarussischen Nationalversammlung, Natalja Kotschanowa, am 12. November.
Kotschanowa, die zu den engsten Vertrauten von Staatschef Alexander Lukaschenko gehört, machte die EU für die dramatische Lage an der belarussisch-polnischen Grenze verantwortlich und verstieg sich zu einem absurden Vergleich mit dem Nationalsozialismus: Den Migranten gehe es heute genauso wie den Belarussen unter deutscher Okkupation 1941 bis 1944. Der Vorsitzende des Repräsentantenhauses der Nationalversammlung, Wladimir Andrejtschenko, behauptet sogar, Polen, Litauen und die EU würden bewusst einen «Völkermord» an den geflüchteten Menschen vorantreiben.
tragödie «Völkermord»? Vergleiche mit dem Nationalsozialismus? Gespieltes Mitgefühl? Der Zynismus, die Skrupellosigkeit und vor allem die Heuchelei der Spitzenfunktionäre und der belarussischen Staatspropaganda sind erschreckend. Dabei trägt das Lukaschenko-Regime die Hauptverantwortung für die Tragödie, die sich seit Monaten an der EU-Ostgrenze abspielt und sich dramatisch zuspitzte.
Der Zynismus, die Skrupellosigkeit und vor allem die Heuchelei der Spitzenfunktionäre und der belarussischen Staatspropaganda sind erschreckend.
Bestrebt, die belarussische Bevölkerung von innenpolitischen Problemen abzulenken und sich an der EU wegen der Wirtschaftssanktionen und der Unterstützung der demokratischen Protestbewegung in Belarus zu rächen, löste Diktator Lukaschenko – wohl von Moskau angetrieben oder zumindest unterstützt – eine Migrationskrise aus.
Vom lukrativen Menschenschmuggelgeschäft finanziell profitierend, lockten die Minsker Machthaber Tausende aus dem Irak, aus Syrien, dem Jemen und aus anderen Ländern mit falschen Versprechungen nach Belarus und öffneten die belarussische Grenze nach Westen. Da sich aber die EU-Nachbarn Polen, Litauen und Lettland zu umstrittenen Push-Backs entschieden, geriet Lukaschenkos Menschenschmuggel ins Stocken, zumal die Zahl angereister Migranten in der Hauptstadt Minsk rapide wuchs und bei der lokalen Bevölkerung für Unmut sorgte.
druck Daraufhin brachte das belarussische Regime kurzerhand beinahe mehrere Tausend Menschen (darunter etliche Frauen und Kinder) im kalten November mitten in der Corona-Pandemie an die Grenze zu Polen, sperrte sie in einem Lager ein und erhöhte den Druck auf die EU.
Spätestens seit dem Ausbruch der landesweiten Proteste im August 2020 und ihrer grausamen Niederschlagung muss der in Belarus verhasste Staatschef im Falle seines Machtverlustes ohnehin mit einer langen Haftstrafe oder mit einem Leben im Exil rechnen. So kämpfen Lukaschenko und sein Umfeld mit dem Rücken zur Wand um ihr politisches Überleben.
Minsk und Moskau sind frei von »moralischen Ketten«.
Lukaschenkos Kalkül ist einfach: Entweder lässt sich die EU auf direkte Verhandlungen mit ihm ein, wodurch er sich die Anerkennung als legitimer Staatschef, die Lockerung der Sanktionen oder zumindest den Verzicht auf neue Sanktionen als Gegenleistung für das Ende der Migrationskrise verspricht, oder er wird zumindest «überflüssige Migranten» los und feiert einen Propagandasieg über den Westen. Der Kreml, der seinem belarussischen Partner zur Seite steht, nutzt Lukaschenkos Rachefeldzug, um die ohnehin gespaltene EU weiter zu schwächen und zu destabilisieren.
hasardspiel In diesem gewissenlosen Hasardspiel haben Lukaschenko und Putin einen entscheidenden Vorteil: Die Zeit spielt für sie. Im Gegensatz zur EU, die sich den Prinzipien der Menschenrechte verpflichtet fühlt und nicht einfach einer humanitären Katastrophe an ihren Grenzen zusehen kann, sind Minsk und Moskau frei von «moralischen Ketten» und werden sich nicht einmal von einem Massensterben an der Grenze beeindrucken lassen.
Dieses Dilemma wird auch in der internationalen Presse diskutiert. So staunen etwa israelische Medien über die Skrupellosigkeit der belarussisch-russischen Allianz und weisen gleichzeitig auf die Schwäche und Unentschlossenheit der EU hin.
Diese Einschätzung trifft wohl zu. Für die EU und die Bundesrepublik stellt die aktuelle Krise eine zukunftsweisende Bewährungsprobe dar. Sich von humanitären Prinzipien leiten zu lassen, Menschen aus den Fängen des Erpressers zu befreien, sie zu retten, hieße möglicherweise, vor den Menschenfeinden Lukaschenko und Putin zu kapitulieren. Sollte man aber stattdessen Härte zeigen, die eigenen Werte verraten und das Leben von Menschen an der Grenze opfern?
härte Während die polnische Regierung bisher auf kompromisslose Härte setzt, konzentrierten sich Brüssel und Berlin zunächst eher auf Schadensbegrenzung und die Lokalisierung der Krise: Durch Verhandlungen mit nahöstlichen Staaten wurde der Zufluss von Migranten nach Belarus eingeschränkt. Gegen Belarus werden neue Sanktionen verhängt.
Während sich die Situation an der Grenze zunehmend verschlechtert, ist eine Lösung weiterhin nicht in Sicht.
Angela Merkel verhandelt direkt mit Wladimir Putin und sogar – Unverständnis und Verstimmung in Polen und im Baltikum in Kauf nehmend – mit dem Paria Alexander Lukaschenko, der verzweifelte Migranten anschließend die Grenze stürmen lässt. Gleichzeitig wird die Rückführung von Migranten in den Irak oder in die Vereinigten Arabischen Emirate hinter den Kulissen ausgelotet.
Während sich die Situation an der Grenze zunehmend verschlechtert, ist eine Lösung weiterhin nicht in Sicht. Obschon die Rettung der Menschen unter diesen Umständen oberste Priorität hat, muss die EU den Erpresser Lukaschenko diesmal unbedingt in die Schranken weisen. Sollten aber die wirksamen Taten ausbleiben, wird die EU den Diktator zu noch schlimmeren Untaten einladen.
Der Autor ist Historiker in Düsseldorf. Er wurde 1979 in Minsk geboren.