Der Direktor der Europäischen Grundrechteagentur (FRA), Michael O’Flaherty, hat mit drastischen Worten davor gewarnt, dass jüdisches Leben aus Europa ganz verschwinden könnte. In einem Gastbeitrag für die Nachrichtenseite »Euractiv« schrieb der Ire am Montag: »Wenn Europa seine jüdische Gemeinschaft weiter im Stich lässt, riskiert es, sie zu verlieren. Dann wird das gesamte europäische Projekt gescheitert sein.«
DATENMANGEL Im Zuge der Corona-Krise würden Juden beschuldigt, das Virus in die Welt gesetzt zu haben, um daraus Profit zu schlagen. Es gebe gegenwärtig eine »antisemitische Welle, die über den Kontinent schwappt«, so der Direktor der in Wien ansässigen FRA, die sich unter anderem für den Schutz der Minderheitenrechte in der EU stark macht.
O’Flaherty kritisierte, dass nicht genügend Daten aus den 27 EU-Mitgliedsstaaten geliefert würden, um das tatsächliche Ausmaß des Antisemitismus abzuschätzen. Daran habe sich in 16 Jahren nichts geändert, kritisierte er. Jedes Land erhebe unterschiedliche Daten und verwende unterschiedliche Methoden. Einige seien komplett untätig, und nur wenige hätten bereits Strategien oder Aktionspläne gegen den Judenhass ausgearbeitet.
»Wir wissen, dass wir ein ernstes Problem haben, aber wir wissen nicht, wie groß es wirklich ist«, schrieb O’Flaherty. Das sei einer der Gründe, warum die Antworten Europas auf den wachsenden Antisemitismus bisher nicht wirksam gewesen seien. Ressentiments gegen Juden seien in den europäischen Gesellschaften tief verwurzelt, und Umfragen hätten wiederholt gezeigt, dass sich zum Beispiel viele Menschen nicht wohl dabei fühlen würden, einen Juden als Nachbarn zu haben, so O’Flaherty.
Zudem bestehe eine Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung von Antisemitismus in der Allgemeinbevölkerung und bei jüdischen Menschen selbst. Über antisemitische Vorfälle werde in den Medien auch wenig berichtet. O’Flaherty forderte, die Meldung und die Untersuchung antisemitischer Vorfälle zu fördern.
EU-RATSPRÄSIDENTSCHAFT Aus einer Umfrage der EU-Grundrechteagentur aus dem Jahr 2018 geht hervor, dass drei von vier der befragten Juden in Deutschland (75 Prozent) auf das Tragen jüdischer Symbole wie etwa der Kippa in der Öffentlichkeit verzichten; dies gelte »manchmal, häufig oder immer«. 46 Prozent vermeiden es nach eigenen Angaben, »gewisse Gegenden« aufzusuchen.
Vergangene Woche fand in Berlin eine Konferenz unter dem deutschen EU-Ratsvorsitz statt, bei der Strategien gegen den Antisemitismus diskutiert wurden. Der EU-Ministerrat hatte im Dezember 2018 alle Mitgliedsstaaten der Union aufgefordert, nationale Aktionspläne und Strategien im Kampf gegen den Judenhass vorzulegen. Nach Informationen dieser Zeitung sind dieser Aufforderung aber bislang weniger als ein Dutzend EU-Staaten nachgekommen. mth