Ende Januar in Brüssel. Es ist wie in jedem Jahr die Zeit des Gedenkens rund um den Internationalen Holocaust-Gedenktag. Zahlreiche EU-Institutionen und jüdische Verbände laden ein. Erstmals tritt Sergey Lagodinsky bei einer solchen Veranstaltung als Redner auf.
Der 48-Jährige zeigt sich ernüchtert. »Ich bin ziemlich sicher, dass die Welt wenig aus dem Holocaust gelernt hat.« Grund sei der Umgang mit dem 7. Oktober. Nein, betont er gleich zu Beginn, der Terrorangriff der Hamas sei nicht mit Auschwitz und der Schoa gleichzusetzen. »Aber er war etwas, das die Juden seit Tausenden von Jahren erlebt haben: ein Pogrom.«
Dann beklagt Lagodinsky die Flut an Fake News in den sozialen Medien. Er prangert den »billigen Hass auf Juden« an, der in den Reden vieler Regierungspolitiker weltweit zum Ausdruck komme. Das Leid der jüdischen Opfer, vor allem das der Frauen, würde übersehen, und jüdische Sportler würden ausgegrenzt, wie unlängst in Südafrika und der Türkei. »All das hat nichts mit der berechtigten Sache des palästinensischen Volkes zu tun«, so der grüne Europapolitiker.
Zwar müsse man über die Notlage der Palästinenser sprechen und über Israels Verantwortung, die Opfer in Gaza zu minimieren und das humanitäre Völkerrecht zu respektieren. »Aber die legitime Diskussion hört dort auf, wo Juden ein Recht verwehrt wird, das alle anderen selbstverständlich für sich beanspruchen: das Recht auf Sicherheit.«
Bis 2011 engagierte er sich bei den Sozialdemokraten.
Als den »einzigen Juden im EU-Parlament« hat die »Wirtschaftswoche« Sergey Lagodinsky vor Kurzem bezeichnet. Ganz stimmt das zwar nicht, es gibt unter den 705 Mitgliedern des Hohen Hauses auch noch andere jüdische Parlamentarier. Unter den Abgeordneten aus Deutschland ist Lagodinsky aber tatsächlich der erste und bislang einzige Jude.
Er versteckt sein Judentum nicht, kehrt es aber auch nicht hervor. Er trage es »mit Ehre« und habe kein Problem damit, wenn er ab und an gefragt werde, wie er »als Jude« dies oder jenes bewerte. Auch dann nicht, wenn es um Israel geht.
Jüdischsein und die Arbeit als Abgeordneter
Auf die Frage, ob das Jüdischsein für seine Arbeit als Abgeordneter in den vergangenen vier Jahren eher nützlich oder eher hinderlich war, antwortet Lagodinsky nuanciert: Wenn jemand antisemitische Vorurteile habe, werde einem das ja selten ins Gesicht gesagt. »Was hinter meinem Rücken gesagt und gesprochen wird oder was Leute subkutan mir gegenüber fühlen, kann ich nicht beurteilen. Bislang habe ich im politischen Betrieb keine schlimmen Erfahrungen dieser Art gemacht.«
Menschen in der Partei, die ihn kennen, loben seine ausgleichende Art. Er sei »blitzgescheit«, sagt eine Grüne aus Nordrhein-Westfalen. Eine ehemalige Europaabgeordnete aus seiner Partei nennt ihn »einen guten Kopf mit internationalem Horizont und großer Fachkompetenz«. Andererseits gibt es in seiner Partei – vor allem im eher linken Berliner Landesverband – auch jene, die Lagodinsky vorwerfen, gerne mal sein Fähnchen in den Wind zu hängen, zu angepasst zu sein.
Beim Gemeindetag des Zentralrats der Juden im Dezember in Berlin muss er sich auch Kritik aus der jüdischen Community anhören. Warum die grüne Außenministerin Annalena Baerbock denn nicht gegen die UN-Resolution zum Nahostkonflikt gestimmt habe, in der die Hamas gar nicht erwähnt wird, fragt man ihn mehrmals. Er nimmt Baerbock gegen die Kritik in Schutz.
In der Europapolitik mischt Sergey Lagodinsky erst seit Juli 2019 mit. Es ist sein erstes Parlamentsmandat. Dennoch wirkt er manchmal wie ein Vollblutpolitiker. Er weiß um die Macht der Worte, ist in den Medien präsent und hält prägnante Reden, für die ihm wie den meisten anderen Parlamentariern in Straßburg meist nur 60 Sekunden im Plenum zur Verfügung stehen.
Was man ihm nicht anhört: Der promovierte Jurist und Rechtsanwalt ist in Russland aufgewachsen und lebt erst seit seinem 18. Lebensjahr in Deutschland.
Lagodinsky kommt 1975 in Astrachan zur Welt, einer Großstadt an der Wolga und nahe des Kaspischen Meers. 1993 siedeln er und seine Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland über und lassen sich in Kassel nieder.
Jura-Studium in Göttingen und Promotion an der Berliner Humboldt-Uni
In der neuen Heimat fasst der junge Mann schnell Fuß. Nach einem Jura-Studium in Göttingen und einem Abstecher an die Harvard University promoviert Lagodinsky an der Berliner Humboldt-Universität. 2010 ist er dann zurück in den USA, dieses Mal an der Yale University, wo er auch den russischen Dissidenten Alexei Nawalny kennenlernt. In den deutschen Medien ist er als jüdische Stimme gefragt, veröffentlicht Gastbeiträge und gibt Interviews.
Auch politisch engagiert sich Lagodinsky, zunächst in der SPD. 2007 gründet er den Arbeitskreis Jüdischer Sozialdemokraten. Beruflich arbeitet er von 2003 bis 2006 für das Berliner Büro des American Jewish Committee. Auch in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin ist er ein aktives Mitglied, tritt 2007 auf der Liste »Hillel« des heutigen Gemeindevorsitzenden Gideon Joffe an.
2016 führt Lagodinsky bei den Gemeindewahlen eine eigene oppositionelle Liste an. Er will Joffe, der 2012 zum zweiten Mal Gemeinde-Chef geworden ist, das Amt streitig machen, doch er scheitert. Lagodinsky spricht von »Wahlbetrug«, gibt aber seine Ambitionen auf den Gemeindevorsitz auf. Gideon Joffe bestreitet Wahlmanipulationen.
Schon 2011 hat Sergey Lagodinsky der SPD wegen der islamfeindlichen Äußerungen von Thilo Sarrazin den Rücken gekehrt. In einem Brief an Generalsekretärin Andrea Nahles schrieb er: »Ich kann es in einer Partei mit einem Sarrazin aushalten. Aber ich kann es nicht in einer Partei aushalten, die sich aus Angst vor dem Stammtisch einem Sarrazin nicht stellen will. Oder noch schlimmer: die nicht mal weiß, ob sie das will.« Die SPD habe »grundlegende Werte verraten«, weil sie das Ausschlussverfahren gegen Sarrazin nicht vorangetrieben habe, sagt er im »Deutschlandfunk«.
In einem Interview forderte er kürzlich einen eigenen nuklearen Abwehrschirm für die EU.
Einer breiten Öffentlichkeit ist Lagodinsky damals noch unbekannt. Doch sein Parteiaustritt wird wahrgenommen. Peu à peu steigt sein Bekanntheitsgrad. Kurz darauf wird er Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen. 2012 heuert er bei der parteinahen Heinrich-Böll-Stiftung als Referatsleiter für Europa und Nordamerika an. Dort gelingt es ihm, vor allem in der Europapolitik und in den transatlantischen Beziehungen an Profil zu gewinnen.
Hansdampf in allen Gassen
Die meisten Europaabgeordneten, vor allem, wenn sie neu in Brüssel und Straßburg sind, konzentrieren sich anfangs auf wenige Politikfelder. Bei Lagodinsky ist das anders. Er startet voll durch und wirkt manchmal wie ein Hansdampf in allen Gassen. So ist er als Delegationsleiter für die Beziehungen des EU-Parlaments zur Türkei zuständig und reist regelmäßig zu Gesprächen nach Ankara. Er ergattert auch den stellvertretenden Vorsitz im Rechtsausschuss, einem der wichtigsten Gremien des Parlaments, und ist so an den komplizierten Verhandlungen über einen AI Act beteiligt, ein Gesetz zur Regulierung der Künstlichen Intelligenz. Nach mehreren Nachtsitzungen wird es Ende 2023 unter Dach und Fach gebracht.
Zudem ist Lagodinsky als Berichterstatter an einer Initiative für ein neues europäisches Vereinsrecht und für die Stärkung zivilgesellschaftlicher Organisationen beteiligt. Fast täglich meldet er sich zu den großen Fragen europäischer Außen- und Sicherheitspolitik zu Wort. So fordert er im Dezember in einem Interview in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« einen eigenen nuklearen Abwehrschirm für die EU – was bei den Grünen, vorsichtig formuliert, längst noch nicht Konsens ist.
Sergey Lagodinsky ist seinen Parteifreunden oft ein paar Schritte voraus. Auch dann, wenn er nicht weiß, ob sie ihm politisch folgen werden. Schon vor dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 fordert er deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine und eine härtere Gangart gegenüber Russlands Präsidenten Wladimir Putin.
Lagodinsky ist auch Mitglied der interfraktionellen Arbeitsgruppe zum Antisemitismus. Doch bei den oftmals hitzigen Debatten über die Beziehungen der EU zu Israel hält er sich merklich zurück. Erst die Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 ändern das. Lagodinsky konstatiert Fehlentwicklungen, auch bei der politischen Linken, der er selbst angehört.
Klare rote Linien beim Thema Israel
Er lobt aber, dass es in Deutschland im Gegensatz zu anderen EU-Staaten beim Thema Israel klare rote Linien gebe. »Vieles von dem, was wir aktuell im Rest von Europa erleben, sehen wir in Deutschland nicht oder nur marginal. Die Menschen hierzulande sehen, dass es Leitplanken gibt, wenn es um Israel geht. Woanders gibt es die leider nicht.«
Zufrieden, zumindest in diesem Punkt, ist Lagodinsky mit der Kommissionschefin. Ursula von der Leyen besuchte Israel kurz nach dem 7. Oktober, gemeinsam mit Parlamentspräsidentin Roberta Metsola. Bei vielen im Brüsseler EU-Betrieb kam das gar nicht gut an und wurde ihr als Parteinahme angekreidet.
Lagodinsky sieht es anders. »Die EU-Positionen sind ja immer sehr israelkritisch, häufig zu Recht. Es gibt genug zu kritisieren und auch einiges zu hinterfragen. Aber in dieser Situation war es gut, dass von der Leyen einen klaren Kurs gefahren hat und auch, dass man sich auch im Außenministerrat in wesentlichen Punkten einig war. Dass die einzelnen EU-Staaten in der UN-Vollversammlung unterschiedlich abgestimmt haben, ist hingegen zweitrangig.«
Die scharfe Kritik an von der Leyen, die auch aus der grünen Fraktion und den EU-Institutionen kommt, hält Lagodinsky für unberechtigt. »Einige Leute schreiben offene Briefe und behaupten, von der Leyen dürfe nicht die EU-Außenpolitik bestimmen. Haben die nicht mitbekommen, dass sie fünf Jahre lang die Russland-Politik, die Ukraine-Politik, die China-Politik bestimmt hat? Warum sollte sie ausgerechnet bei diesem Thema die Klappe halten?«
Manche werfen ihm vor, sein Fähnchen in den Wind zu hängen.
Den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell sieht Lagodinsky deutlich kritischer. »Borrell ist ein sehr problematischer Kollege, auch, weil von ihm aus meiner Sicht sehr wenig Strategisches kommt für eine gemeinsame Außenpolitik.« Lob spendet Lagodinsky dagegen für die »klare Linie« der EU gegenüber Russland. Die Kommission habe mit ihrer Politik der Sanktionen und der erfolgreichen Reduzierung der Abhängigkeit von russischem Gas einen ungewöhnlichen »geostrategischen Weitblick« an den Tag gelegt, sagt er.
Alter Wein in neuen Schläuchen
Andererseits komme von der EU auch viel alter Wein in neuen Schläuchen. »Da werden ständig neue Pakete geschnürt, mit einem Schleifchen versehen und einem eingängigen Begriff, obwohl in Wahrheit längst bekannte Sachen dahinterstecken. Das weckt Erwartungen, denen die europäische Politik nicht gerecht werden kann.« Als Beispiel nennt er die Türkei-Politik. »Was ist unsere Strategie gegenüber der Türkei? Gibt es überhaupt eine? Und wenn, warum hören wir dazu nicht viel?«
Nicht alle Probleme wurden seit 2019 gelöst, und dass die Arbeit eines EU-Parlamentariers mit den vielen Reisen ein Knochenjob ist, hat auch er erfahren müssen. Zeit für Erholung bleibt ihm kaum, nur wenige Wochen im Jahr sind für die Abgeordneten sitzungsfrei, und an Wochenenden stehen häufig Parteitermine und Veranstaltungen in Brandenburg und Berlin an.
Doch Sergey Lagodinsky hat seine erste Amtszeit in Brüssel genutzt. Seine politische Karriere ist vorangekommen. Stand er 2019 auf der Wahlliste von Bündnis 90/Die Grünen noch auf Platz 12, rangiert er nun auf Platz zwei, direkt hinter der Fraktionsvorsitzenden Terry Reintke, die am Wochenende in Lyon auch zur EU-weiten Spitzenkandidatin bestimmt wurde.
Der Wiedereinzug ins Europaparlament ist Lagodinsky im Juni ziemlich sicher. Im grünen Wahlkampf dürfte er eine tragende Rolle spielen. Für einen deutschen Juden ist das eine Premiere.