Die Nachrichtenflut gibt wahrlich keinen Anlass zur Begeisterung: Währungskrise, Griechenlandhilfe, das Fehlen einer gemeinsamen Außenpolitik, Flüchtlingsfeindlichkeit. Wo ist da noch Platz für Europa-Enthusiasmus? Schon macht sich unter den »neunationalen« östlichen Nachbarn klammheimliche Freude breit.
Lange Zeit hatten die russischen Eliten der humanitären Naivität und den institutionellen Fantastereien der Europäer einen baldigen Niedergang vorausgesagt. Jetzt sieht man sich im eigenen Nationalkonservatismus bestätigt und zeigt, was man immer schon gerne zeigte: viel Respekt für die Stärke europäischer Einzelstaaten, wenig Respekt für deren Union.
Zukunft Doch gemach, liebe Nachbarn! Noch ist Europa nicht verloren. Man braucht bloß den Alltag zu betrachten, um festzustellen, dass Europäer nicht in Wolkenschlössern residieren, sondern in einer vereinten, sehr wohl funktionierenden Realität. Auch wenn sie sich mit der konkreten Ausgestaltung der Zukunft schwertun, wird die Suche nach einer gemeinsamen Zukunft dennoch fortgesetzt – auf Grundlage einer bewundernswert vereinten Gegenwart.
Denn eines steht fest: Das Projekt Europa bedeutet nicht, über eine gemeinsame Armee zu verfügen und eine einvernehmliche Außenpolitik zu betreiben. Nicht mal die Währung namens Euro macht den entscheidenden Unterschied. Das Projekt Europa ist viel banaler und globaler zugleich: Es gibt inzwischen eine neue Generation von Menschen, für die nachbarschaftlicher Frieden und Freiheit eine Selbstverständlichkeit sind.
Und das ist unser größtes Problem. Selbstverständlichkeiten werden selten geschätzt. Deshalb trifft man die Leidenschaft für Europa immer seltener an. Auffällig auch: Immer rarer sind die jüdischen Stimmen im ohnehin dünn gewordenen Chor der EU-Begeisterten. Dabei müssten gerade Juden wissen, wie wenig naturgegeben manch eine Selbstverständlichkeit ist.
Leidenschaft Noch vor 70 Jahren war Europa ein Kontinent des Grauens: ein Haufen Nationalstaaten, die sich gegenseitig bekriegten und eigene Minderheiten unterdrückten. Juden mussten dafür millionenfach mit ihrem Leben bezahlen. Dass wir in Europa uns heute nicht mal ansatzweise vorstellen können, in derartigen Kategorien zu denken, schulden wir zwei bürokratisch anmutenden Buchstaben unseres Alphabets – EU – und der visionären Leidenschaft der Nachkriegsgenerationen.
Wer, wenn nicht wir Juden, müsste dies zu schätzen wissen? Spiegeln sich nicht in der heutigen Europa-Realität unsere jahrhundertelangen Sehnsüchte wider? Ist die EU nicht die Institutionalisierung unserer Sicht der Welt, in der Gedanken, Lebensentwürfe, ja ganze Gemeinschaftsentwürfe grenzenlos sind?
Wer Hannah Arendt liest, erkennt, dass Juden eigentlich die ältesten Europäer, also Befürworter und Träger dieser Idee sind. Inmitten zahlreicher Einzelstaaten bildete ihre Gemeinschaft eine gedankliche Brücke über die immer tiefer werdenden nationalstaatlichen Gräben. Juden waren es, die zwischen Herrschern sowohl wirtschaftlich als auch diplomatisch vermittelten.
Loyalität So entwarfen sie schon frühzeitig, was die Nationalstaaten wegen ihrer konzeptionellen Begrenztheit nicht zu leisten vermochten: die Idee eines gemeinsamen Kontinents. Durch das einzigartige Austarieren zwischen lokalen Loyalitäten und Länder überspannenden Netzwerken wiesen jüdische Gemeinschaften den Weg in die Zukunft. Und sie zeigten durch ihre bloße Existenz den anderen Europäern, wie beschränkt der Nationalstaat ist. Auf Beamtendeutsch würde man heute diesen damals ketzerischen Lebenswandel wohl als Bewegungs-, Waren- und – ja, auch das – Kapitalfreiheit bezeichnen.
Trotz Mord und Verfolgung haben Juden als Gemeinschaft die europäischen Nationalismen überlebt und können im Alltag genießen, wovon sie früher nur träumten. Denn Europa ist heute viel mehr als Warenfreiheit. Weit über EU-Grenzen hinaus spannt der Geist des Europäertums seine Werte der Freiheit und Humanität.
Mit der Menschenrechtskonvention, die aus den Wunden des Holocausts entstand, ist die zwischenstaatliche Fantasie zu einer konkreten humanitären Garantie geworden. Und weil diese menschenrechtliche Dimension nicht auf die EU begrenzt ist, strahlt sie weit hinaus – bis nach Amerika, Afrika oder Israel, deren Gerichte sich auch an der Rechtsprechung der Europäer orientieren.
Europa heute – ist unser Europa! Ob mit oder ohne gemeinsame Außenpolitik, ob israelfreundlich oder israelkritisch. Europa ist unser Projekt. Und vielleicht sind es die »ältesten Europäer«, die dieses Projekt wieder jung aussehen lassen können. Doch dazu müssen wir unsere verloren gegangene Begeisterung wiederentdecken – die Begeisterung für das gemeinsame Wir.
Der Autor lebt als Jurist und Publizist in Berlin.