Seit Jahren befassen sich europäische Gerichte mit der Frage, ob das Tragen religiöser Symbole am Arbeitsplatz eingeschränkt oder ganz verboten werden darf. Meist waren es muslimische Klägerinnen, die sich gegen ein Kopftuchverbot zu Wehr setzten. Doch die Verbote betreffen im Grundsatz auch die Kippa, den Turban oder den Habit von Ordensfrauen.
Am Dienstag fällte nun der Europäische Gerichtshof (EuGH), das oberste Gericht der Europäischen Union, ein Grundsatzurteil zu der Frage, inwiefern staatliche Verwaltungen das Tragen religiöser Symbole auch dann einschränken dürfen, wenn die betroffenen Mitarbeiter gar keinen Publikumskontakt haben und somit von der Öffentlichkeit gar nicht wahrgenommen werden.
Belgische Muslima klagte gegen Kopftuchverbot
Eine belgische Muslima, die in der Gemeindeverwaltung von Ans tätig ist, hatte in Lüttich gegen das von der Gemeinde selbst erlassene Kopftuchverbot am Arbeitsplatz geklagt, weil sie sich in ihrem Recht auf freie Religionsausübung verletzt und gegenüber anderen Kolleginnen diskriminiert sah. Laut einem Beschluss der Verwaltung von Ans ist nämlich jedwede Form von Proselytismus am Arbeitsplatz untersagt. Das schließt das Tragens von Zeichen ein, die offensichtlich auf eine bestimmte ideologische oder religiöse Zugehörigkeit der betreffenden Person schließen lasse.
Das Lütticher Arbeitsgericht hatte dem Europäischen Gerichtshof die Sache zur Vorabentscheidung vorgelegt und gefragt, ob die von der Gemeinde Ans aufgestellte Regel eine verbotene Diskriminierung im Sinne der Antidiskriminierungsrichtlinie der EU aus dem Jahr 2000 sei.
Die Antwort der Luxemburger Richter: nein, sofern das Ziel einer strikten Neutralität, die eine öffentliche Verwaltung ihren Arbeitnehmern gegenüber durchsetzen will, ein rechtmäßiges Ziel in dem betreffenden EU-Staat ist und als sachlich gerechtfertigt angesehen werden kann. Ebenso gerechtfertigt, machte der Gerichtshof jedoch klar, wäre auch eine Entscheidung für eine Politik, die das Tragen von sichtbaren Zeichen vollständig oder teilweise gestatte. Auch ein Verbot nur bei Situationen, in denen es zu Publikumskontakt kommt, sei nach europäischem Recht grundsätzlich gestattet, so die Richter.
Die Mitgliedstaaten und auch darunter angesiedelte politische Einheiten verfügten über einen Wertungsspielraum bei der Ausgestaltung der Neutralitätspflicht im öffentlichen Dienst. Ein solches Ziel müsse aber »in kohärenter und systematischer Weise« verfolgt werden und die zu seiner Erreichung getroffenen Maßnahmen verhältnismäßig sein und sich auf das absolut Notwendige beschränken. Es sei zudem Sache der nationalen Gerichte, zu prüfen, ob diese Anforderungen im Rahmen des nationalen Rechts erfüllt seien, betonten die Luxemburger Richter.
Volker Beck kritisiert Urteil
In Deutschland gab es Kritik an dem Urteil. Volker Beck, Geschäftsführer des Tikvah-Instituts und ehemaliger Bundestagsabgeordneter von Bündnis90/Die Grünen, sagte dieser Zeitung: »Das ist kein guter Tag für die Freiheit. Der Europäische Gerichtshof stellt die Neutralität des Staates über die Religionsfreiheit anstatt sie in der religiösen und weltanschaulichen Pluralität seiner Bediensteten und ihres weltanschaulich neutralen Handelns zu erkennen.«
Der Gerichtshof bleibe damit im Trend der sich immer mehr säkularisierenden Gesellschaften. »Religion wird nicht mehr als soziales und den Menschen umfassend bestimmenden Phänomen verstanden. Neutralität wird als sterile, bürokratische Gleichheit und nicht als Gleichheit in der Verschiedenheit verstanden.« Dennoch glaubt Beck nicht, dass das Urteil auf Deutschland größere Auswirkungen haben wird. »Das Bundesverfassungsgericht hat den Staat als Heimstatt aller Bürger definiert, hierzu gehören gläubige Juden, Christen und Muslime ebenso wie Sikhs, Buddhisten oder Hindus.«
Es war nicht das erste Urteil des EuGH in dieser Richtung. Im Dezember 2020 entschieden die obersten Richter, dass es den EU-Mitgliedstaaten gestattet sei, das betäubungslose Schlachten von Tieren, wie es unter anderem die jüdischen Speisegesetze verlangen, ganz zu verbieten, ohne unzulässigerweise in die freie Religionsausübung einzugreifen.
AZ: C-148/22