Die Betreiber mehrerer sozialer Netzwerke kommen ihrer Pflicht nicht nach, antisemitische Hassbotschaften innerhalb der vorgesehenen Frist zu löschen. Zu diesem Schluss kommt eine Recherche des ARD-Politmagazins »Report München« in Zusammenarbeit mit der Wochenzeitung »Die Zeit«.
Die Plattformen hatten sich im Mai 2016 gegenüber der Europäischen Kommission dazu verpflichtet, illegale Inhalte innerhalb von 24 Stunden mehrheitlich aus dem Netz zu entfernen, wenn Nutzer diese bei ihnen anzeigen.
CODE OF CONDUCT Bei einem von Mitgliedern der Arbeitsgruppe Antisemitismus des Europäischen Parlaments sowie einem Abgeordneten des kanadischen Parlaments gestarteten Feldversuch wurden am Dienstag vergangener Woche insgesamt 125 antisemitische Inhalte auf den von den Plattformen Facebook, Twitter und YouTube dafür vorgesehenen Wegen gemeldet.
Die Links zu den Posts und Videos hatte zuvor die Nichtregierungsorganisation »The Online Hate Task Force« den Abgeordneten zur Verfügung gestellt. Sie waren zu diesem Zeitpunkt frei verfügbar auf den Plattformen einsehbar.
Vierundzwanzig Stunden nach der Meldung waren 122 dieser Einträge weiterhin online. Von 50 antisemitischen Inhalten auf Facebook, 41 auf Twitter und 34 auf YouTube löschte im Testzeitraum jede der Plattformen jeweils nur einen. Das ARD-Politmagazin »Report München begleitete den Versuch der Europaparlamentarier.
Entsprechend dem »EU Code of Conduct on Countering Illegal Hate Speech«, den die Plattformen 2016 unterzeichnet hatten, müssen ordnungsgemäß gemeldete illegale Inhalte mehrheitlich nach 24 Stunden gelöscht werden. Dies war nach einer Auswertung von »The Online Hate Task Force« und der Überprüfung durch die Parlamentarier nicht der Fall.
HANDLUNGSBEDARF Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland nannte das Ergebnis der Recherche »nicht zufriedenstellend. Die Plattformen müssen hier konsequenter Vorgehen und ihrer unternehmerischen Verantwortung gerecht werden. Was im Netz beginnt, endet nicht selten auf der Straße«, so Josef Schuster gegenüber dieser Zeitung.
Die deutsche Vizepräsidentin des Europaparlaments, die FDP-Politikerin Nicola Beer, sprach von einem »katastrophalen Ergebnis« und forderte Konsequenzen: »Hier muss ganz dringend gehandelt werden«, sagte sie und kündigte an, das Ergebnis mit den Plattformen zu diskutieren.
Auch der schwedische Europaabgeordnete David Lega von der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) zeigte sich durch die Tatsache alarmiert, dass nach Ablauf des Versuchs über 97 Prozent der Inhalte noch frei zugänglich im Netz standen. »Das sind antisemitische Texte, Lügen und Bilder, die Juden in einer absolut schrecklichen Weise verunglimpfen.«
Der SPD-Europaabgeordnete Dietmar Köster, der ebenfalls an dem Versuch teilnahm, hält das Ergebnis für sehr bedenklich: »Wir haben fünf klare, eindeutige Fälle von Antisemitismus identifiziert. Diese Fälle haben wir Facebook gemeldet. Es gibt keine Reaktion darauf. Diese antisemitischen Äußerungen sind nicht gelöscht worden. Damit verstoßen diese Plattformen, Facebook vor allen Dingen, gegen ihre eigenen Grundsätze, aber auch vor allen Dingen gegen die gesetzlichen Verpflichtungen.« Die in den Netzwerken veröffentlichten Äußerungen stellten eine Bedrohung für Juden dar, so Köster.
Die EU-Direktorin der Organisation B’nai Brith International in Brüssel, Alina Bricman, kritisierte, dass auch sechs Jahre nach Inkrafttreten des Code of Conduct die Löschrate bei antisemitischen Inhalten so »miserabel« sei. »Das zeigt, wie wichtig es ist, dass die Plattformen einen klaren Standard für die Definition von Antisemitismus haben, am besten mit der IHRA-Arbeitsdefinition des Antisemitismus. Vor allem aber unterstreicht es die Notwendigkeit umfassenden Veränderungen, die gesetzlich vorgeschrieben werden«, sagte Bricman.
»Die Tatsache, dass die Mehrheit der antisemitischen Kommentare als mit den Gemeinschaftsstandards vereinbar angesehen wird, zeigt, wie abgestumpft die Gesellschaft gegenüber Antisemitismus ist und wie in einer Zeit, in der Desinformation und Verschwörungen überhand nehmen, Antisemitismus als Mainstream und akzeptabler Diskurs angesehen wird«, so die B’nai Brith-Direktorin weiter.
REAKTION Eine Sprecherin des Facebook-Mutterkonzerns Meta verwies auf Anfrage von »Report München« auf eine Studie der EU-Kommission aus dem Jahr 2021, der zufolge 81 Prozent der gemeldeten Inhalte bewertet und mehr als 60 Prozent gelöscht worden seien. Die Sprecherin erklärt außerdem: »Hassrede ist inakzeptabel und wir investieren umfangreich in Teams und Technologien, um solche Inhalte zu erkennen und zu entfernen, bevor sie von Menschen gesehen werden.«
Zu den konkreten antisemitischen Posts, die im Rahmen des Versuchs nicht innerhalb der Frist gelöscht wurden, äußerte sich die Sprecherin jedoch nicht. Nach der Anfrage von »Report München« bei Meta wurde noch eine beträchtliche Zahl der Posts und Videos gelöscht. Von Twitter und YouTube bzw. Google erhielten die Reporter keine Antworten auf ihre Anfrage. mth