Herr Nägele, in der Nähe des Stadttempels in der Wiener Innenstadt hat es am Montagabend einen islamistischen Terroranschlag gegeben. Wie haben Sie diese Stunden erlebt?
Ich war in der Innenstadt, zwei, drei Kilometer entfernt vom Geschehen. Unser Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister, der direkt über der Synagoge wohnt, rief mich an. Er berichtete von Schüssen und bat mich, die Polizei zu rufen, weil er mehrere Minuten vergeblich versucht hatte durchzukommen und die Polizei bisher nicht vor der Synagoge erschienen sei. Seitdem war ich dann mit dem Krisenmanagement beschäftigt.
Worin bestand dies?
Ich trat sofort mit der Sicherheitsabteilung unserer Gemeinde in Kontakt sowie mit den Behörden, dem Gemeindepräsidium und mit unserem Krisenstab. Um unsere Gemeindemitglieder zu schützen, entschieden wir noch in der Nacht, alle jüdischen Einrichtungen – Synagogen, Schulen, Restaurants, koschere Supermärkte – am Dienstag komplett zu schließen. Denn zu diesem Zeitpunkt ging man davon aus, dass es höchstwahrscheinlich mindestens einen weiteren Täter gibt, der noch auf der Flucht ist.
Wie reagierten die Gemeindemitglieder auf den Anschlag und Ihre Entscheidungen?
Das ist ein massiver Einschnitt. Man kann plötzlich nicht einkaufen gehen, die Kinder können nicht in die Schule. Was die psychische Seite betrifft, arbeiten wir eng mit unserem psychosozialen Zentrum ESRA zusammen, um den Gemeindemitgliedern und -mitarbeitern Unterstützung zu bieten. Und den orthodoxen Mitgliedern musste verständlich gemacht werden, dass sie nicht zu den Gebeten gehen konnten, die jüdische Routine am Dienstag leider durchbrochen werden musste.
Wie sicher leben Juden in Wien?
Die Stadt hat eine jüdische Infrastruktur, die für die Größe der Gemeinde weltweit einmalig ist: Es gibt zahlreiche Synagogen, Schulen, Restaurants und Vereine. Wien ist nicht zu Unrecht die lebenswerteste Stadt der Welt und eine der sichersten Städte der Welt. Umso mehr trifft es uns ins Mark, wenn so ein schrecklicher Anschlag passiert, der sich ja nicht nur gegen Einzelne, sondern gegen die gesamte Bevölkerung richtet.
Nach dem Anschlag haben viele Mitglieder das Bedürfnis, dass die Gemeinde enger zusammenrückt. Wie kann das trotz des Lockdowns geschehen?
Das ist eine große Herausforderung. Um das Gemeindeleben aufrechtzuerhalten, versuchen wir, immer mehr virtuell stattfinden zu lassen, ob das Gebete sind oder Jugendangebote. Was jetzt noch wichtiger wird, ist, telefonisch psychosoziale Unterstützung anzubieten für die Gemeindemitglieder. Wir haben eine Hotline, bei der man sich melden kann. Wir versuchen, emotionale Nähe zu bieten, obwohl sie physisch nicht vorhanden ist.
Mit dem Generalsekretär der Israelitischen Kultusgemeinde Wien sprach Tobias Kühn.